Krise des Hörens

Mißtrauen gegen das Wort*

Stehen wir nun in einer solchen Krise des Hörens oder nicht?

Menschen, die in Verkündigung, Erziehung, Lehre, künstlerischer Gestaltung und Wiedergabe oder im Dienst des Rundfunks sich an das Gehör ihrer Zeitgenossen wenden, machen durchaus verschiedene Erfahrungen mit ihrem Bemühen. Gleichwohl zeichnet sich Gemeinsames an diesen Erfahrungen ab.

Manches gute Wort wird gerne, sehr gerne angenommen und findet auch Widerhall. Aber solcher Widerhall ist dann zumeist der Dank: Endlich, dies ist das Wort, auf das ich lange gewartet habe, nach dem ich aushorchte, und nun habe ich inmitten des betäubenden Stimmengewirrs es doch gefunden! Es gibt recht bewußte und eingehende Gespräche zwischen dem Sprecher [48] und Hörer des Wortes, aber derlei Gespräche sind gerade deshalb bewußt und einläßlich, weil sie herauswachsen aus der Überwindung eines doppelten Widerstandes: Das Wort mußte sich durchkämpfen durch den Lärm der vielen Stimmen, das Hören heraustreten aus dem Mißtrauen, das dieser Lärm seiner anfänglichen Bereitschaft einflößt.

So bestätigen auch die geglückten Verhältnisse des Hörens und des Wortes zueinander die vielen, scheinbar entgegengesetzten Urteile, daß es ungemein schwer sei, Hören, gutes Hören zu wecken. Denn was den Weg des Wortes zum Gehör hemmt, ist nicht die Kritik, die sich mit dem Wort auseinandersetzt, sondern die Müdigkeit, die es nur hinnimmt. Das nur hingenommene Wort aber gleitet ab von der lebendigen Freiheit des Hörers, oder es weicht sie von unten her, unbemerkt, wie im Traume, auf. Es gelingt mit entsprechend geschickt eingesetzten Mitteln, einen augenblicklichen Effekt zu erzielen, der die freie Entscheidung übermannt, oder einen heimlichen Einfluß auszuüben, der sie unterwandert. Was überlaut oder was nur nebenbei sich hören läßt, hat Aussicht anzukommen, aber gerade dieses läßt den Menschen nicht eigentlich mehr hören. Denn er hört nicht, wo er selbst in seinem Hören nicht „dabei“ ist, sondern reagiert. Je raffinierter indessen schreiende Reklame oder geflüsterte Propaganda sich entwickeln, je dichter sie den Raum durchschwirren, desto mehr heben sie sich gegenseitig auf in den unterschiedslosen und im selben Maße wirkungslosen Summton des allgemeinen Weltgeräusches.

Der Mensch muß so viel hören, daß er kaum mehr hören kann. Ohne Angebot gibt es keine Wahl, doch nichts macht so wahllos wie das Überangebot. Das Überangebot des Hörbaren stürmt auf uns in zweifacher Weise ein: Die Technik multi-[49]pliziert die Möglichkeiten, mit Schallwellen das menschliche Ohr zu treffen, und diese Möglichkeiten werden, weil sie solche sind, auch ausgenützt. Zugleich hat sich die Klammer einer gemeinsamen Ordnung des Denkens und Urteilens gelöst, immer mehr Welt- und Wertbilder werben um unsere Zustimmung. Den unser Leben allenthalben verfolgenden Medien des Hörens eingegossen, erreichen sie alle, treiben sie alle zusammen zum ungeheuerlichen Markt der Meinungen, auf dem alles fast gleich leicht hörbar ist und so den Anschein erweckt, auch gleich viel wert zu sein.

Dem Wort, das zum rechten Hören finden will, bleibt es nicht erspart, sich in diese Medien und auf diesen Markt zu begeben. Den neuen Möglichkeiten geöffnet und doch im Bedacht der neuen Gefahren, stellt es an das Hören einen Anspruch, der das bislang Gewohnte weit übersteigt. Das Hören ist vor ihm nicht träge, sondern müde geworden. Müde von der pausenlosen Berieselung, die den höchsten Anruf und die banalste Lächerlichkeit paart und zudem die widersprechenden Anrufe in derselben Stärke und Dringlichkeit einschmilzt in ihren einen Rhythmus.

Die Folgen auf die durchschnittliche Hörgesinnung sind doppelter, scheinbar gegensätzlicher Art: Es wird wahllos viel und es wird doch nichts eigentlich gehört; wir sind anfällig für jedes Wort und zugleich mißtrauisch gegen jedes Wort.

Es wäre indessen ungerecht, den Widerstand zu übersehen, der sich, gerade auch von seiten der jüngeren Generation, gegen die Verführung des bloß Modischen und gegen die lähmende Gleichgültigkeit wendet. Hochtönende Parolen und hohle Phrasen werden durchschaut und leidenschaftlich abgelehnt. Nur das überzeugte Wort besitzt Glaubwürdigkeit. Aber die [50] Überzeugtheit wird beurteilt nach der Tat, die dem Wort entspricht, und vom Wort selbst wird äußerste Nüchternheit verlangt. Es soll einem niemand etwas „vormachen“ können. Gewiß fängt mit solchem Mut, sich zu stellen, der Mut zu neuem Hören an. Und doch liegt auch über ihm der Schatten des Mißtrauens. Die Spannweite der Bereitschaft zu hören ist auf ein schmales Maß beschränkt. Äußerlich, denn der lange Atem weitergeführter Gedankenzusammenhänge wird nur noch mühsam mitvollzogen, der knappe Anruf bleibt viel eher haften. Bedeutsamer ist jedoch die innere Enge der Spannung des Hörens: Das bestätigbare, kontrollierbare, in Erfahrung umsetzbare Wort gilt allein, das Wort, das weiterfragen und tiefer graben will, droht unter die Unzahl der bloßen Meinungen eingereiht zu werden, denen sich auszuliefern auf zu unsicheren Boden führt. Es handelt sich dabei weniger um ein theoretisches Bezweifeln als um den Rückzug aus der tätigen Gefolgschaft unter Berufung auf die oft erfahrene Grenze der eigenen Möglichkeiten.

In dem so viele Hörvollzüge auf verschiedene Weise begleitenden Mißtrauen scheint in der Tat sich etwas wie eine Krise des Hörens anzumelden. Mißtrauen bedeutet nicht Kritik; denn Kritik geht beurteilend und also hörend mit dem Wort mit und versucht, bis in seine Wurzel einzudringen; das Mißtrauen hingegen schützt sich vor dem hörenden Mitgehen und verschließt sich in sich selbst. Entweder es läßt alles Gehörte ermüdet an sich abgleiten, ohne Hoffnung, daß in seiner Überfülle doch auch der Schatz unter dem Schutt vergraben liegen könnte; oder es beschränkt, wie eben angedeutet, die Bereitschaft vernehmenden Eingehens auf den Bereich des sofort Überschaubaren. Oder aber es verbirgt sich in der Wahllosig-[51]keit ungezügelten Draufloshörens – denn wohl deshalb sind wir dem massenhaften Hörangebot so ausgeliefert, weil wir uns selber die Wahl nicht mehr zutrauen.

Vielleicht enthüllt eine häufige Erfahrung von Seelsorgern und Erziehern das, was auf dem Boden solchen Mißtrauens ruht: Viele Kinder – und Erwachsene – wehren sich innerlich gegen das Wort, weil sie nicht daran glauben, als sie selbst bejaht und angenommen zu werden, sich ihrer selbst sicher sein zu dürfen im Gespräch. Die so viel beredete Isolierung und Einsamkeit wie die kaum weniger zeitgemäße Gesprächsseligkeit, die alles im Unverbindlichen beläßt, weisen in dieselbe Wurzel: Der Mensch vertraut nicht mehr darauf, sich selbst wagen zu dürfen, selbst nicht verloren zu sein und abgewiesen vom Wort, das von gegenüber kommt.