Mit eigener Stimme

„Mit deiner Stimme“

Verkündigung sagt nichts, wenn sie es nicht in der Sprache dessen sagt, dem verkündet wird. Aus diesem unleugbaren Tatbestand werden nicht selten problematische Konsequenzen gezogen. Der Blick in die Predigt Jesu oder in die Paulusbriefe sagt offen genug, daß nicht gemeint sein kann: Verkünde nur das, was ankommt! Dabei wäre das Wort „ankommen“ gar nicht so ungeeignet, auf das Entscheidende hinzuweisen. Denn beim Ankommen kommt doch das Ganze an, trifft das Ganze ein, bringt es sich hin und hinein in den Lebensraum des andern, so daß es wirklich bei ihm ist, sein ist. Im Ankommen lebt also die Spannung zwischen Woher und Wohin, und nicht der Kompromiß ist gemeint, sondern die Einheit.

Wie also predigen, damit es im ganzen und guten Sinne „ankommt“? Wiederum weist uns das Wort Rückübersetzung den Weg. Wo bist du, der andere, ganz da? Wo treffe ich wahrhaft dich? In deiner Situation, in deinem Jetzt, ganz gewiß. Und doch ist dies nur die eine Seite der Antwort. Die andere: Ganz da, als du selber da, bist du nur dort, wo du ganz geliebt bist: in ihm. Rückübersetzung heißt: sich selbst als Sprechender zurückübersetzen in jene Liebe, die den andern ganz annimmt, ihn freisetzt zu sich selbst. Und diese Liebe, die Liebe Jesu geht zugleich zwei Wege: den Weg zum andern hin, den Weg in die erfahrbare Nähe zum andern – und den Weg äußerlich von ihm weg, den Weg ans Kreuz, wo, scheinbar fremd und fern vom Menschen, er gerade ganz umfangen, ganz angenommen, ganz durchlitten und so verwandelt wird.

Die zwei Wege Jesu sind auch die Wege des Predigers, Wege, die ihn in seine Predigt hineinführen und die seine Predigt selber geht. Ich kann die anderen nicht „anpredigen“, sondern ich muß in sie eingehen, von ihnen her, von ihrem Innern her das Wort sozusagen erleiden. Es muß mir aufgehen in ihrer Erfahrung, in ihrem Verstehen und Empfinden, in ihrem eigenen Leben. Wir dürfen uns an das Bild des Paulus erinnern, der sagt, er leide Geburtswehen, bis Christus in den Galatern Gestalt gewinnt (vgl. Gal 4,19).

Dieses Gestalt-Gewinnen umfaßt zugleich zwei Vorgänge. Einmal den Vorgang der Konzentration auf die eine Mitte des Evangeliums, die aufgehen will in der Mitte der Erfahrung und des Lebens der anderen. Gestalt ist nur, wo Eines Gestalt gewinnt, wo eine Mitte sich entfaltet. Zum anderen aber muß eben diese Mitte sich entfalten. Es darf nichts vom Wort, nichts von der Botschaft draußen bleiben aus der erleidenden Vermittlung im andern. Die ganze Stimme des Herrn muß Stimme des anderen, Stimme dessen werden, der die Predigt aufnimmt.

Die eine Mitte und zugleich das Ganze bis zum Äußersten hineinleiden in den, dem ich predige – dies ist die eine Grundrichtung des Predigens und der Existenz des Predigers. Die [145] andere, in welcher sich Jesu Weg von den anderen hinweg, zum Vater hin, einholt: die Adressaten, die Empfänger der Predigt, ganz, mit ihrer Mitte, aber ebenfalls mit allem, was zu ihnen gehört, hineinleiden in Jesus Christus.

Der Prediger kann nicht rasch vor dem Unverständnis derer kapitulieren, welche mit seiner Predigt nichts anfangen können, er darf sich aber ebenso wenig und noch weniger rasch als der Verkannte davon dispensieren, das Wort zu vermitteln, es dort sein zu lassen, wo es nach Auskunft des Römerbriefes ist: „Das Wort ist dir nahe, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen“ (Röm 10,8). Es will in den Mund und in das Herz nicht nur des Predigers, sondern dessen, der die Predigt hört, mit seiner Stimme will es bekannt, in seinem Herzen will es geglaubt werden. Die Leidenschaft des Paulus, den Schwachen ein Schwacher zu werden, um die Schwachen zu gewinnen, allen alles zu werden, um auf jeden Fall einige zu retten (vgl. 1 Kor 9,22), eröffnet hier ihren tiefsten Grund: es ist die Leidenschaft Jesu selbst, der hineinging in die ganze Fülle und ganze Armut menschlichen Daseins bis zum Rand, ja bis zur Gottverlassenheit, um allen alles zu werden, um alle in sich zu tragen. Und diese Leidenschaft ist dieselbe und eine, die ihn im selben Kreuzweg hinaustreibt aus der Stadt, aus der Gemeinschaft, aus der Verständlichkeit für die anderen, hin zum Vater allein (vgl. in etwa Hebr 13,12f.), um so gerade uns alle hineinzutragen in den Vater. Predigen ist in letzter Konsequenz jener eine Vollzug, der Christus hineinleidet in die Hörer und die Hörer hineinleidet in Christus. Man könnte dies die eucharistische Mitte der Predigt nennen, in welcher die Stimme des Predigers eine doppelte Verwandlung erfährt, wie die eucharistischen Gaben sie erfahren, die zugleich der Christus werden, der uns gegenüber ist, und der Christus, der wir selber sind, sein zweifach-einer Leib. Christus im Herzen tragend, geht der Prediger hin zu seinen Hörern, geht er in sie ein. Sie im Herzen tragend, geht er zu Christus hin, in ihn ein.

Doch noch ein Weg – oder besser: noch ein drittes Mal derselbe Weg – ist dem Prediger auferlegt. Es ist der Weg in die Mitte derer, die in Jesu Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20). Seine Predigt will Bekenntnis der einmütig (in Anlehnung an den Urtext von Mt 18,19 könnten wir sagen: symphonisch) in seinem Namen Versammelten sein, und gerade in solchem Einklang zwischen Predigt und Bekenntnis, zwischen Predigendem und vielen Bekennenden geschieht Gegenwart des Herrn selbst. Hier ist die Versammlung, welche die Predigt hört, „zurückübersetzt“ in die Gemeinschaft der Jünger um den österlichen Herrn, der in ihre Mitte tritt, hier ereignet sich dieses Grundereignis von Kirche aufs neue. Es ist wahrhaft seine Stimme, die hier in Predigt und Bekenntnis zugleich spricht. Aber es ist zugleich die Stimme der Glaubenden, ihre je eigene, die dann zu sich selber findet, wenn sie in den makellosen Einklang mit dem Herrn und mit der Gemeinschaft der Glaubenden findet. Die Stimme des Predigers ruft den Glauben der Hörenden hervor und verleiht dem Glauben der Hörenden zugleich Ausdruck. Das Amen, das Bekenntnis, die Antwort und der Einklang zwischen Wort und Antwort gehören hinzu.

Doch auch der Prediger selbst ist, sofern er predigt, in den Einklang der Verkündiger, in den Einklang der Gesandten, in den apostolischen Einklang des Zeugnisses hineingerufen. Er ist erst er selbst im Ganzen und Letzten, wenn er nicht nur er selbst ist, sondern Ausdruck des einen Herrn, der im Kollegium, im Corpus der Apostel spricht. Ich spreche mit deiner Stimme – das heißt für den Prediger: ich spreche mit der Stimme der Hörenden, und ich spreche mit der Stimme derer, die vor mir und mit mir verkünden, mit der Stimme der Apostel. Erst darin erreicht die Rückübersetzung in den Ursprung ihre ganze Fülle, den Reichtum jener Bezüge, die der Christus amans se ipsum stiftet, trägt und umfängt.