Berufung und Nachfolge. Zum Text „Leben heißt antworten“: Was bedeutet Berufung heute?

Mit Klaus Hemmerle „leben lernen“

Eine der großen Fragen von Klaus Hemmerle war immer „Wie geht das?“ – „Glauben, wie geht das?“, „Das Heilige denken, wie geht das?“. Implizit liegt diese existenzielle Neugierde auch dem Text „Leben heißt antworten“ zu Grunde. Die nicht ausformulierte Frage hieße dann: „Leben, wie geht das?“ Klaus Hemmerle sucht auf diese Frage eine Antwort im Licht des Wortes Gottes. Wilfried Hagemann und ich möchten Sie einladen, nachfolgend mit Hemmerle dieser Frage nachzugehen und mit ihm „leben zu lernen“. Doch zunächst möchte ich Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, einladen, gemeinsam einen Abschnitt aus dem Text zu lesen. Denn die Intention des Textes verlangt geradezu nach gemeinsamer Erfahrung und verbietet es mir quasi, Ihnen nur zu referieren. Lesen wir also gemeinsam:

„Man hat mich nicht gefragt, ob ich geboren werden will – und doch ist mein Leben eine Antwort. Meinen Intelligenzquotienten und meine Blutgruppe, meine Muttersprache und mein Elternhaus, meinen Geburtsjahrgang, das Gesellschaftssystem und die Umwelteinflüsse, unter denen ich stehe, das habe ich mir alles nicht ausgesucht. Und doch kann mir nicht egal sein, was aus meinem Leben und aus dem der Menschen um mich herum, was aus meiner Welt und unserer gemeinsamen Zukunft wird. Vielleicht sieht es danach aus, daß ich sehr wenig ändern kann, daß man viel mehr mit mir anfängt, als daß ich selber etwas anfangen könnte. Aber wie steht es mit jenen, die wirklich etwas Großes angefangen haben? Etwas, das zum Heil oder Verhängnis für viele die Welt verändert hat? Bei vielen war das Netz ihrer Chancen vermutlich noch enger gestrickt als bei mir. Wie immer ich mich entscheide, verhalte, verweigere, gehenlasse, einbringe, in die Hand nehme, aus der Hand gebe, es bleibt dabei: mein Leben ist Antwort. (…)

Antwort worauf? Sicher, auf Ungezähltes, auf das Schrillen des Weckers und die Schlagzeile in der Zeitung, auf die Verkehrssignale und die leisen Signale der freundlichen oder abweisenden Blicke derer, die an mir vorbeihuschen, auf die Slogans der Werbung und die Parolen der Parteien, auf die Träume der Nacht und die Erzählungen der Kameraden, auf Sonnenschein oder Regenwetter. Aber bin ich wirklich nicht mehr als ein Mosaik aus flimmernden Tupfern verschwimmender Augenblicksreaktionen? Mich hochstilisieren zur Persönlichkeit, nein, darauf lasse ich mich nicht ein. Aber in dem vielen, was auf mich zukommt, bin doch irgendwo ich selbst gefragt, ich selbst gemeint. Leben heißt antworten.“

Dieser Text ist weniger ein theologischer Essay als vielmehr eine existenzielle Meditation über das Thema Berufung unter dem Leitmotiv „Ruf“ und „Antwort“, der einen tiefen Einblick gibt in Klaus Hemmerles theologisches und auch philosophisches Denken. Leben heißt antworten – hier schwingt Klaus Hemmerles tiefe Prägung vom dialogischen Personalismus mit. Man denke etwa nur an seine Beschäftigung mit dem jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig. Wilfried Hagemann hat diese Prägung einmal sehr treffend als einen „Durchmesser des Radius“ des Denkens von Klaus Hemmerle skizziert.1


  1. vgl.: W. Hagemann, Verliebt in Gottes Wort, Leben Denken und Wirken von Klaus Hemmerle, Bischof von Aachen, Würzburg 2008, 87. ↩︎