Mit eigener Stimme

„Mit meiner Stimme“

Wenn er sich in mir sagen will, dann heißt dies: Ich habe mein ganzes Leben zurückzuübersetzen dorthin, von wo aus er sich in mich hineinsagt und durch mich hindurchsagt.

Es geht um seine Stimme in der meinen. Habe auch ich eine Vorgeschichte wie er? Gibt es auch für mich so etwas wie einen Johannesprolog, aus dem ich mein Zukommen zu mir selbst aus meinem Ursprung übernehmen und mein Ichsagen lernen kann – so daß ich fähig werde, ihm meine Stimme zu leihen und mich selber in seiner Stimme zu finden?

Ich muß wiederum zu ihm gehen, zur Wurzel seines Menschseins. Im Hebräerbrief wird eine Stelle aus der griechischen Fassung des 40. Psalms uns vorgestellt als das Gebet Christi „bei seinem Eintritt in die Welt“ (Hebr 10,5ff.). Es ist ein Gebet der Annahme, der Bereitschaft, des Horchens: „Ja, ich komme!“ Hier wird also Menschsein ganz anders gelesen als so, wie wir es erfahren. Da kommt einer, da entschließt sich einer zum Menschsein, da sagt einer im vorhinein und von innen her ja zum Menschsein. Nicht ein nachträgliches Ja, sondern eines, das dieses Menschsein allererst konstituiert und es durchdringt vom ersten Augenblick an.

Über uns aber, über mich, so scheint es, ist Menschsein einfach verhängt. Ich kann mir nicht nur nicht wählen, zu welcher Zeit und in welchem Volk, in welcher Sprache und mit welcher Erbmasse ich leben will, ich werde gar nicht danach gefragt, ob ich überhaupt sein will. Meine Freiheit ist allein schon dadurch begrenzt, daß es sie gibt.

Aber es gibt meine Freiheit noch einmal. Es gibt sie in einem, der sie von innen her angenommen hat. Jener Eine, der nur deswegen, weil er wollte, Mensch wurde, ist Mensch geworden für mich, ist Mensch geworden, damit er mein Menschsein trage. Er hat mein eigenes Dasein zurückübersetzt in eine Freiheit, die sich zu mir entschließt, dazu, daß es mich gibt und dazu, daß ich in allen meinen Begrenzungen und sogar mit dem, was ich an meinem eigenen Dasein verdorben habe, geliebt und angenommen und so in einen neuen Anfang freigesetzt bin. Das schon zitierte Pauluswort erhält einen neuen Klang: „Was ich in dieser Welt zu leben habe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.“ Ich bin geliebt und angenommen von innen her und von Anfang an, und es gibt eine Freiheit, die mich einlädt, ganz frei zu sein zu mir, indem ich mit ihr den Weg meiner Annahme gehe. Diese Freiheit, die mich zu mir befreit, die Freiheit Gottes, hat keine andere Wahl als mich ungefragt ins Leben zu setzen. Denn es gibt eben meine Freiheit nicht aus mir selber, sondern nur von meinem Schöpfer her. Aber wohl hätte die schöpferische Freiheit die Wahl gehabt, mich mir zu überlassen und mir zu sagen, daß es kein Unrecht ist, wenn es mich gibt und wie es mich gibt und wie ich mit meinem Schuldigsein und Endlichsein fertig werden muß. Doch die göttliche Freiheit hat die andere Wahl getroffen, jene, sich ganz mit mir einszumachen und mir bis in mein Innerstes entgegenzukommen. Ihr Weg ist nun in der Tat auch für mich, wenn ich ihn mitgehe, der Weg göttlicher Freiheit. Meine Stimme ist in der Menschwerdung des Sohnes Gottes zur Stimme Jesu Christi geworden, seine Stimme kann zu der meinen werden, indem ich mit ihm mich selber annehme und bejahe.

Allerdings ist dieses göttliche Ja zu mir weder in Jesus noch in mir ablösbar vom Ja zu den andern, zu allen. Eine isolierte Jesusfrömmigkeit, die nur auf ihn und mich schaute, schaute gar nicht auf ihn. Denn er ist, ganz für mich sich gebend, zugleich da für alle, er gibt sich für das Leben der Welt. Die Vielen, die andern gehören hinzu. Aber genau betrachtet, bin auch ich nicht ohne die andern. Ich bin nur freigesetzt zu mir, wenn ich auch freigesetzt bin zu den andern hin. Was mich allererst ich sagen läßt, das läßt mich du und ihr und alle sagen. Die [143] Rückübersetzung meines Daseins in den es setzenden und heilenden Ursprung, in die es zu sich selbst befreiende Freiheit ist Rückübersetzung in jenes eine „Sei!“, das mich und alle meint, in jene eine Liebeshingabe, die mich und alle im einen Tod und in der einen Auferweckung Jesu umfängt.

So hineinstoßend in die Situation, aus der ich im ganzen und umfassenden Sinn ich sagen kann, stoße ich zurück in die Verkündigung des Evangeliums Jesu und des Evangeliums von Jesus. Er selber ist Freiheit, die aufbricht zu mir und allen, sich gibt für mich und alle. Aus dieser Freiheit spricht er, aus dieser Freiheit geht er in das Pascha hinein, das durch die Zeugen verlautet, verkündet wird.

In der Rückübersetzung aus dem Seinmüssen meiner Existenz ins Seindürfen, ins Seinkönnen, in dieser Teilhabe an der sich zu mir entschließenden Freiheit des Sohnes Gottes verwandelt sich auch die Last des Evangeliums ins sanfte Joch, die auferlegte Verbindlichkeit des zu Verkündenden in die liebend bezeugte Wahrheit meiner selbst. Nicht daß diese Rückübersetzung immer ohne Schmerzen ginge, nicht daß die Maßnahme am verbindlich Vorgegebenen immer ohne Krise verliefe – aber in solchem Identifikationsproblem geht es letztlich um den Neugewinn meiner selbst aus dem Ursprung, geht es darum, mehr Liebe und ganz Liebe zu werden und so in der anderen und gar fremden Stimme des Christus meine eigene zu entdecken und zu entbergen.

Der Bezug des Predigers zu sich selbst, seine innere Identität, das Finden seiner Stimme geschieht im Bezug zu Jesus Christus, in der Rückübersetzung auf ihn zu. Dieser Rückbezug, diese Rückübersetzung hat zwei Dimensionen. Einmal die Dimension des Zeugnisses, zum andern die der Sendung.

Es gibt heute viele und unterschiedliche Impulse, ja Bewegungen, die das Wort, das in Schrift und Verkündigung gegebene Wort, als Wort des Lebens, als gelebtes Wort neu in die Mitte rücken. Sicher kann es da Einseitigkeiten und Verkürzungen geben, zu gleicher Zeit scheint hier ein Anruf an unsere Stunde, eine neue Möglichkeit und Notwendigkeit unserer Stunde zu liegen. Das Wort leben, das bedeutet Verflüssigung jener geronnenen Gestalt, in welcher es uns gegeben ist, Übersetzung nach vorne, vom Hören ins Tun. Sich stellen unter das Wort, sich neu schaffen lassen durch das Wort, so wie das erste Fiat uns das Dasein gibt, dies ist hier die Devise. Aber solche Übersetzung nach vorne ist zugleich Übersetzung nach rückwärts, in die Ursprungssituation des Wortes hinein. Nur der lebt das Wort, den das Wort sagt und der deswegen es selber als sein Wort, als Ausdruck seines Lebens sagen kann.

Sag nur das Wort, das dich sagt! Dies ist in der Tat die Voraussetzung des Zeugnisses. Und solche Rückübersetzung des Wortes in ein Leben, das sich in ihm findet und mitteilt, ist zugleich Übersetzung in das Leben der andern. Wer dergestalt nichts anderes als das Evangelium bezeugt, daß er darin mit seinem eigenen Dasein Zeugnis gibt, der trifft gerade – erinnern wir uns nochmals an das 14. Kapitel des 1. Korintherbriefs – das Leben, das Eigene der andern. Wenn das Evangelium der Ausdruck seines Lebens wird, dann hat der Prediger den einzigen Weg gefunden, der zu den andern hinführt, den Weg Jesu, der sich eins macht mit den andern, sich für sie hingibt, ihr Leben als das seine annimmt. Mit meiner Stimme predigen, das heißt dann also: die Stimme des Evangeliums, die Stimme Jesu ist meine Stimme geworden, hat meine Stimme in sich aufgenommen als ihr Innerstes und Eigenstes und wirkt dieses Innerste und Eigenste im eigenen Leben aus.

Aber da gehört noch – für den Prediger, der eigens mit dem öffentlichen Verkünden beauftragt ist – die Sendung hinzu, die dem Zeugnis eine eigentümliche, neue Qualität gibt: geschichtlich ausdrücklich rückbezogen auf den Herrn, komme ich und spreche ich von ihm her. Er hat mich gerufen, er hat es mir gesagt, er hat mir seinen Auftrag zukommen lassen durch jene, die mich zum Predigen bestellten. Nur eine äußere Zugabe? Nein, die steigernde Einholung des Ursprungs, meines Ursprungs aus ihm. Dieser Ursprung aus ihm hat, von ihm her gelesen, drei Stufen. Er sagt mir: ich will, daß du bist – Schöpfung. Er sagt mir: ich bin, daß [144] du bist, ich lebe und sterbe, damit du du und ich seiest – Erlösung. Und nun sagt er noch hinzu: ich vertraue mich dir an, ich liefere mich aus in dein Wort hinein für die andern, für die Vielen – Sendung. Weil ich Gesandter bin, weil ich ins Vertrauen genommen bin, bin ich, zunächst, wie mir weggenommen, entäußert in ihn hinein. Meine Stimme ist ganz der seinen geliehen, erlischt in die seine hinein. Doch gerade weil er mich braucht, bin eben ich gebraucht, bin eben ich gemeint, bin eben ich in meinem Eigenen betroffen und beansprucht. Weil ich gesandt bin, bin ich nicht Tonband, sondern Übersetzer. Treue und Neuheit des Zeugnisses gehören innigst zusammen. Und nur dann kann ich meine Sendung ausüben, nur dann sind seine und meine Ursprünglichkeit, die beide zur Sendung gehören, gewahrt, wenn ich mich in den einen Ursprung, der er selber ist, zurückversetze und hineinnehme. Sendung wird um so wirksamer, je mehr sie sich mit dem Zeugnis verbindet, je mehr sie als Zeugnis gelebt wird – und sie kann nur als Zeugnis gelebt werden, wenn ich selber mit meinem ganzen Dasein zurückgehe an den einen Punkt, von dem aus sein Wort gesagt ist und ich gesandt, geliebt, erlöst, zum Dasein und Selbstsein ermächtigt bin.