Musik als Liturgie – Liturgie als Musik
Musik als Konsonanz des Unten und Oben
Musik hat dann also etwas mit dem Zentrum des Menschen, mit dem zu tun, was – nicht im Gegensatz zur Rationalität, sondern als deren Mitte – von Augustin und Pascal und nicht nur von ihnen im prägnanten Sinne des Wortes als „Herz“ bezeichnet wird. Dieses Zentrum des Menschen öffnet sich in einer doppelten Bewegung. Es geht über sich hinaus nach unten [16] und nach oben, es äußert sich in der Gestaltung des sinnlichen „Materials“ von Klang, von Ton. Klang und Ton treten in den Vordergrund vor das als rationales Zeichen artikulierte Wort, die Weise der Artikulation von Klang und Ton geht nicht zuerst darauf, ein rational eindeutig mit einem bestimmten gemeinten Inhalt zu verbindendes Zeichen zu setzen, so sehr imitierende, malerische, programmatisch-inhaltliche Momente in die Musik einfließen und Musik in ihrer Genese faktisch mit ihnen verbunden ist. Der Descensus des Herzens in die Sinnlichkeit von Klang und Ton gehört elementar zur Musik hinzu, aber in solchem Descensus geht es nicht primär um die Fassung eines Tatbestandes oder Bezeichnung eines wie immer gearteten Inhaltes, vielmehr erhält der Klang in seiner musikalischen Gestaltung einen höheren Selbstwert als im gesprochenen Wort, zumal wenn dieses nicht als „gebundenes“, poetisches in die Sphäre von Musik anfänglich eingerückt wird. Mit diesem Selbstwert des sinnlichen Klangmaterials ist aber eine tiefere Rückbindung an die gestaltende Mitte, an das „Herz des Menschen“ verbunden. Wohl drückt der Mensch immer sich selber aus, indem er etwas ausdrückt – der musikalische Ausdruck ist jedoch in gesteigertem Maße darauf angelegt.
Dem könnte widersprochen werden, wenn wir an eine „Musik um der Musik willen“, an eine um ihrer immanenten Gesetzmäßigkeiten willen produzierte Musik denken. Aber im Ansatz gibt es auch solche Musik nur, weil es Menschen gefiel, eine solche Musik zu machen, weil sie in diesem Gefallen eine Möglichkeit ihrer selbst ausnutzen, die insofern das ausdrückt, was ihnen gefällt, worum es ihnen geht, ihr „Herz“. Descensus des Herzens in die Sinnlichkeit, um sich selber auszudrücken, um sich zu finden in dem, was einem selbst gefällt, worin man sich selbst gefällt.1
Damit ist freilich auch die andere Richtung, die des Ascensus, des Aufstiegs menschlichen Herzens mit berührt. Die trivial gewordene Wendung von der Herzenserhebung des Menschen in der Musik spricht Ursprüngliches an. Wenn ich musiziere statt spreche, singe statt sage, gar jubiliere statt sage, dann sage ich weniger als im Wort, will sagen: ich füge nichts in der Ordnung des inhaltlich bedeutsamen Zeichens zum Wort hinzu, und ohne das Wort unterbiete ich dessen zeichenhafte Ausdrücklichkeit für einen gemeinten Sachverhalt. Und doch sage ich zugleich mehr, als was sich sagen läßt. Um nochmals auf die zitierte Augustinusstelle zurückzukommen: Wo das Wort vor seinem eigenen Anspruch versagt, da überläßt es sich der nichts mehr und so gerade das Mehr sagenden Kraft des Gesangs, der Musik. Wo aber Musik sich des Wortes bedient, wo sie das Wort auf ihre eigene Weise zum Klingen bringt, da feiert sie das im Wort Gemeinte, da umkleidet sie es, schmückt es, bringt es zum Leuchten. Das Minus der Musik gegenüber dem Wort ist zugleich ihr Plus, ihr Magis. Abstieg und Aufstieg, Descensus und Ascensus liegen nicht außereinander, sondern ineinander, der Descensus selbst ist Vollzug des Ascensus. Anders gewendet: Musik steht seinshaft einerseits vor der Pforte des Wortes – und sie führt zugleich dahin, wohin das Wort allein nicht mehr gelangt. Das Wort muß sich dessen, was „unter“ ihm steht, des Klangs, des Tones, des Sinnlichen bedienen, um jenes zu erreichen, was über ihm steht. In der Musik wird wie nirgendwo sonst das Sinnliche zum Medium dessen, was zu groß ist, als daß bloße Rationalität es fassen könnte und was doch im Menschen als mit der Ratio begabten Wesen aufgehen will. Augustin kennt diese Dialektik: Er bezeichnet einmal Jesus als das Wort und Johannes als die Stimme, die das Wort hervorbringt und durchsetzt, aber vor dem Wort zurücktritt – Unterlegenheit der Stimme gegenüber dem Wort2; zum anderen feiert er die Überlegenheit des Jubels über das Wort, weil er das Unaussprechliche, Gott selbst erreicht: „Wem ziemt solches Jubilieren wenn nicht dem unaussprechlichen Gott? Unaussprechlich nämlich ist der, den du mit Worten nicht mehr sagen kannst. Und wenn du ihn nicht sagen kannst und doch nicht schweigen darfst, was bleibt dir, als daß du jubilierst?“3 Von hier aus läßt sich erahnen, weshalb der Lobpreis Gottes durch die Engel als „Gesang“ ausgesagt wird: Gesang, Musik ist Sichüberschreiten zum Größeren, indem der Sichüberschreitende sich erfüllen läßt von dem, was größer ist als er, sich depotenziert zum Medium, in dem der Größere aufgeht und also groß ist. Und es ist ebenfalls verständlich, weshalb das Sein der Schöpfung als Lobgesang erfahren werden kann, zum Lobgesang wird, indem der Mensch Schöpfung versteht und sich als Schöpfung und in der Schöpfung versteht. Musik ist so in einem das Verstummen im Erklingen des Größeren und das Miterklingen im Erklingen des Größeren.
[17] Solche Aussagen wollen nicht die Intention des einzelnen Musizierenden oder des einzelnen Musikstückes, sondern sie wollen den seinshaften Stellenwert von Musik bezeichnen. Sind sie nicht dennoch eine theologische Überhöhung des Phänomens? Eine theologische Auslegung gewiß, aber eine Auslegung, die ihren Ursprung eben im Phänomen hat. Denn die Bewegung über mich hinaus, die Bewegung, sich zugleich zu steigern und zu depotenzieren, um das Größere, das Wohin und Warum meiner Existenz zum Klingen zu bringen — dies ist Grundimpuls der Musik. Und entfalteten wir sie in einer anderen phänomenologisch naheliegenden Richtung, der des Spieles, so gelangten wir zum selben Ergebnis. Denn auch Spiel spielt sich ein in die Gegenwart des Größeren und spielt das Größere ein in sich selbst, ist Konsonanz des eigenen Vollzugs mit dem Vollzug des Größeren, Einklang des Spielenden mit dem Gespielten. Die konstitutive Dramatik des musikalischen Spiels innerhalb der vielen Spielarten des Daseins aber ist wiederum jene zwischen Wort und Stimme, zwischen ratio und jubilatio, die wir bereits bedachten.