Theologie als Nachfolge

Nachfolge als hermeneutischer Schlüssel heute

Theologie als reflektierte Nachfolge: dies ist die Summe sowohl des unmittelbar angesetzten wie des aus Bonaventura erhobenen Vorbegriffs von Theologie. Gleichwohl werden wir unseren „unmittelbaren“ Vorbegriff derselben Rückfrage unterziehen müssen, die uns eben im Blick auf Bonaventura beschäftigt hat: Gibt es nicht noch andere, genauso plausible Möglichkeiten, die Sache der Theologie zu fassen? Natürlich gibt es sie; aber es gibt auch einen Anlaß, uns heute gerade für die vorgeschlagene zu entscheiden. Die theologische Diskussion der letzten Jahrzehnte ist vor allem bestimmt durch das, was man die kerygmatische und hermeneutische Differenz nennen könnte. Kerygmatische Differenz: im Zuge kritisch-historischer Methode der Schriftauslegung zeichnete sich immer deutlicher und immer differenzierter ab, daß der historisch sicherbare Befund vorösterlichen Sprechens und Wirkens Jesu nicht auf die Weise einer platten Repetition im Kerygma, also in der biblisch verfaßten Glaubensverkündigung der Urkirche vorliegt. Wie verhält sich nun, um eine gängige, aber nicht unproblematische Formel zu verwenden, der historische Jesus zum Christus des Glaubens? Hermeneutische Differenz: zugleich mit dem Auseinanderrücken zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens rückten aber auch für das [32] Bewußtsein unserer Zeit der Horizont modernen Fragens und Verstehens und der Horizont neutestamentlichen Sprechens insgesamt auseinander. Wie kann die Botschaft von damals Botschaft von heute werden? Wie kann der Mensch des 20. Jahrhunderts sich und seine Welt in der neutestamentlichen Botschaft wiederfinden? Jede Fixierung auf jeweils nur einen Pol der genannten Differenzen wäre theologische Engführung. Bloße Kompromisse oder Mittelwege wären unredlich und wenig hilfreich. So legt sich die Frage nahe: Gehören nicht die Spannungen, aus denen diese beiden Differenzen herausspringen, zum Wesen des Evangeliums selbst? Und daß und wie sie zu ihm gehören, wird gerade im Geschehen der Nachfolge und in der Reflexion dieses Geschehens sichtbar. Zum anderen wird aber auch sichtbar: Nicht ein Reflektieren über die genannten Differenzen, sondern allein das Geschehen von Nachfolge kann die Gleichung zwischen Historie und Kerygma, zwischen evangelischem Anspruch und gegenwärtigem Selbst- und Weltverständnis beglaubigen, ja neu formulieren. Und aus diesem Grund ist die Parallele zwischen dem gegenwärtigen und dem bonaventuranischen Vorbegriff von Theologie als reflektierter Nachfolge mehr als eine formale Verwandtschaft. Bei Bonaventura ist doch die Reflexion Vollzug der Nachfolge im Denken, sein Denken ist Denken in der Nachfolge und als Nachfolge auf dem Weg des Franz von Assisi. Was uns nottut, ist ein solcher Weg, und gerade darum ist für uns das Gespräch mit Bonaventura an der Zeit.