Neuer Ansatz in Sicht?

Nachpluralismus

Pluralismus ist aber schon nicht mehr das letzte Wort. Er ist dabei, sich von innen her selbst zu überholen. Bereits geht das Wort vom Nachpluralismus um. Drei recht unterschiedliche Alternativen zum Pluralismus sind im Vorrücken.

Die erste bricht aus der Mitte des Pluralismus selber auf. Diese Mitte ist die Dynamik neuzeitlicher Wissenschaft und Technik. Sie und nicht mehr das Band einer [21] Überzeugung hält die Gesellschaft zusammen. In Wissenschaft und Technik wirkt aber auch die innere Triebfeder des Fortschritts, Stillstand darf es nicht geben. Wird dieser Fortschritt zum höchsten Prinzip erhoben, dem sich alle Lebensbereiche zu unterwerfen haben, dann kann und darf es keine letzten Werte und letzten Wahrheiten mehr geben, alle Erkenntnisse und alle Werte müssen es sich gefallen lassen, durch den Fortschritt wieder überholt zu werden. Anstelle der Freiheit zu unterschiedlichen letzten Überzeugungen und Glaubensentscheiden tritt dann die Forderung nach Freiheit von letzten Überzeugungen und Glaubensentscheiden. Aus der Toleranz unterschiedlicher Weltanschauungen wird die Intoleranz gegen Weltanschauungen, die im Fortschritt nicht das Letzte und Einzige erblicken. Diese Intoleranz wird als die eigentliche Freiheit, als die Freiheit zum Fortschritt ausgegeben.

Ist der Pluralismus nicht mehr Raum für Weltanschauungen, sondern wird er selber zur Weltanschauung, dann hebt er sich auf: die einzige und letzte Wahrheit ist, daß es keine letzten Wahrheiten gibt und geben darf; denn letzte Wahrheiten wären verbindlich und würden meine Freiheit beschränken.

Im Namen des Fortschritts und der Freiheit schlägt der Pluralismus um zu einem im Grunde totalitären System. In diesem ist für das Christentum kein Platz. In manchen Versuchen, die Kirche und den Einfluß von Christentum und Religion aus der Öffentlichkeit zu verbannen, in manchen Gesetzesreformen, die von einer Bindung der Gesellschaft an unverfügbare letzte Werte absehen, in manchen Programmen, die im Namen der Freiheit Widerhall nicht nur in elitären Zirkeln finden, wird die gezeichnete Idee bereits wirksam.

Eine zweite Alternative zum Pluralismus erwächst aus dessen innerer Ohnmacht. Im Pluralismus lebt man [22] aneinander vorbei, jeder hat seine Meinung und hat sie für sich selbst. Dennoch muß man miteinander auskommen, und so bleibt nichts anderes übrig, als breite Mehrheiten zu bilden und Kompromisse zu finden. Was dabei herauskommt, ist langweilig, fade, leer. Das aber erzeugt eine geheime Unzufriedenheit, eine Sehnsucht, die sich an Utopien einer gewesenen oder zukünftigen besseren Ordnung festklammert, und so entstehen radikale Strömungen von rechts und links, die das Bestehende umzustürzen versuchen. Weil die Gesellschaft auf dem Weg der Evolution, der Weiterentwicklung des Vorhandenen nicht über sich hinaus zu finden scheint, propagiert man die Revolution.

Allerdings gibt es – und hier zeichnet sich eine dritte nachpluralistische Alternative ab – noch andere Reaktionen auf die Ohnmacht des Pluralismus: Emigration aus der Gesellschaft, aus dem Einsatz in ihr und dem Interesse an ihr. Nicht wenige schalten einfach ab, ziehen sich zurück in eine Gleichgültigkeit und Hoffnungslosigkeit, die sich bis zu Lebensangst und seelischer Krankheit steigern kann. Andere bauen sich eine Gegenwelt zur Welt der Arbeit, der Politik, der Öffentlichkeit in ihrem privaten Bereich: Traum, Rausch, Droge auf der einen Seite, Interesse an Heilslehren, Pflege der Innerlichkeit, Wege der Selbstfindung auf der anderen Seite. Der Verzicht der Gesellschaft auf Sinnentwürfe scheint sich zu rächen. Sowohl der Radikalismus wie die Resignation stellen die Gesellschaft vor bedrängende Aufgaben. Woher soll sie die Kraft nehmen, sie zu lösen?

Im Nachhinein erschließt sich uns der Zusammenhang zwischen Pluralismus und Nachpluralismus auf der einen und den geistigen Wellen der Nachkriegsentwicklung auf der anderen Seite. Dem „existentiellen“ Impuls entsprach die pluralistische Gesellschaft auf eine [23] beinahe selbstverständliche Weise: Daß Glaube, Entscheidung, Überzeugung Sache des einzelnen, nicht des Staates war, daß der ideelle Gehalt der Gesellschaft an dem lag, was einzelne in ihn einbrachten, schien in der pluralistischen Gesellschaft und dem ihr angemessenen demokratischen Staat endlich geschichtlich Gestalt geworden. Die Problematik der pluralistischen Gesellschaft, das, was zu ihrem Aufbau führte, aber auch das, was über sie hinaustrieb, wurde zum bestimmenden Thema in den „soziologischen“ sechziger Jahren. Die unterschiedlichen Spielarten des Nachpluralismus bewegen die frühen siebziger Jahre; an der verbreiteten Resignation, freilich mit auch positiven Anzeichen, setzt die neue Bewegung nach innen, der neue Aufbruch der Sinnfrage an.