Berufungspastoral um die Jahrtausendwende

Neue Sicht des Menschen: Gerufener

Nun sind wir endgültig dort angekommen, wohin wir auf allen unseren Schritten unterwegs waren: beim Ruf Gottes. Allerdings ist im vorhinein bereits Berufungspastoral hier nicht mehr als eine zur allgemeinen Pastoral zusätzliche Sondersparte zu betrachten, sondern sie deckt die Mitte des Gesamtzusammenhanges der Theologie, ja der Botschaft auf. Der Mensch ist nicht mehr der Anwendungsfall oder das Durchführungsmoment eines Systems, das sich in ihm und durch ihn hindurch selber vollstreckt – der Mensch ist aber auch nicht nur mehr der individuelle Inhaber von Ansprüchen und Wünschen, dem das Dasein widerfährt und der versucht, alles andere sich, eben seinen Ansprüchen und Wünschen, anzuverwandeln. Der Mensch ist sich vorgegeben – aber solche Vorgabe verurteilt ihn nicht. Der Mensch ist ins Ganze, ins Mitsein mit anderen gestellt – aber auch dies ist nicht Minderung seines Selbstseins. Der Mensch ist als sich gegeben und als mit anderen lebend ein Gerufener, Geliebter – und sein Selbstsein ist diesen Ruf in Dienst und Sendung beantwortende und weitergebende Liebe. Gerufensein und Antwortsein bedeuten Gegebensein, das befähigt, Gabe zu werden, die sich selber gibt.

Rufen wir uns die Phänomene ins Bewußtsein, die uns beim Blick auf unsere Situation vor der Jahrtausendwende auf- [11] gefallen waren: Christsein zwischen Martyrium und Dialog, Christsein im Weltgespräch der zueinander gerufenen Völker und Kulturen, Christsein als Dienst an einer Zivilisation der Liebe. Suche nach dem Ursprung, welche die Natur, ihre Vorgabe ehrfürchtig hütet, ohne sie zu vergötzen; welche zum Heiligen hin transzendiert, ohne es magisch zu vereinnahmen oder sich selbst und seine Verantwortung in ihm auszulöschen; welche über die rechnende und verfügende Rationalität hinauswächst, ohne die Nüchternheit von Wort und Antwort zu verlieren; welche Institutionen und Gestalten nicht auflöst, sich ihnen nicht versklavt, sondern durch sie hindurch die Communio sucht. Alle diese Phänomene weisen hin auf eine Ontologie, die bei Ruf, Antwort, Empfangen, Weitergabe und somit „trinitarischer“ Einheit ansetzt.

Eine Anthropologie des Rufes ist heute also fällig. In ihr ist der Mensch von Ursprung und Anfang an hinbezogen auf den dreifaltigen Gott, findet er in ihm Ursprung, Ziel, Urbild und Raum seines Lebens. Einheit und Gleichheit lassen sich nur leben in einer Beziehung des Gebens und Empfangens, und diese Beziehung ist nicht Zusatz zu einem in sich geschlossenen Dasein und Selbstsein, sondern dieses Dasein und Selbstsein hat seine Substanz, seinen Selbststand in dem Vollzug von Gabe und Annahme. Die Dinge und Situationen sind nicht Verhängnisse und nicht verfügbare Objekte, sondern Worte des Rufenden, Anrufe, die mich zur Antwort, zur Annahme und Gestaltung zugleich, herausrufen. Mein Dasein ist nicht ein vom Nullpunkt an von mir zu erstellender Entwurf, aber auch nicht ein Verhängnis oder eine Mischung aus beidem, sondern ganz Ruf und Gabe an mich und ganz meine zu verantwortende, zu vollbringende Antwort in einem. Solche Beziehung, in welcher alles spielt, ist freilich nicht privatisierendes „Ich und Du“ zwischen Gott und mir oder zwischen mir und meinem Nächsten. Meine Verwiesenheit auf Gott in der Liebe, die er mir erweist und der ich antworte, führt von sich her hinaus ins Ganze, in die Welt. Und genauso verkapseln sich nicht Ich und Du im Ghetto einer Zweieinsamkeit, sondern Liebe wird zum gemeinsamen Geschenk, das öffnet und weiterführt.

Wir können mit zweimal drei Strukturmomenten zumindest die Wegweiser aufstellen, die anzeigen, in welche Richtung eine solche Anthropologie des Rufes führt.

Die ersten drei Stichworte: Gott – Gemeinschaft – Welt. Eine Anthropologie des Rufes lebt vom ausdrücklichen Verhältnis zu Gott. In diesem Verhältnis aber gerinnt Ruf zur Sendung, zum Dasein-für, Gottes liebende Bewegung der Hingabe an alle wird zur eigenen Lebensbewegung. Ich selbst, unvertretbar, ich bin der Träger meiner Beziehung zu Gott und meiner Sendung zur Welt – aber nicht ich allein, sondern ich auf die anderen zu und von ihnen her, ich in der Communio. Mein Ichsagen ist hineingesenkt in solche Communio, und diese selbst gewinnt die „trinitarischen“ Maße der Gegenseitigkeit des Nehmens und Gebens und der Weitergabe über sich hinaus.

Die zweite Dreizahl von Bestimmungen einer Anthropologie des Rufes ist uns bereits begegnet: Selbstsein – Gegebensein – Mitsein. Das Selbstsein, die Freiheit, der Ausgang von mir werden nicht ausgelöscht. Die „Autonomie“ des neuzeitlichen Subjektes löst sich nicht einfachhin [12] auf in eine Fügsamkeit und Einordnung. Ich selber bin auf die Spitze meiner selbst gestellt als der Gerufene. Aber mein Selbstsein ist eben Antwort, mein erstes Wort ist zugleich das zweite Wort der Annahme. Ich bin mir gegeben, Dasein ist mir gegeben, Welt ist mir gegeben. Und nur im Ernstnehmen solcher Gegebenheit, im Verdanken, eben im Antworten kann Freiheit gelingen und kann verantwortliche Gestaltung der Gegebenheit gelingen. Dieses Ich, das mir von Gott her zufällt, ist Ich-für-andere und Ich-mit-anderen, ist Ich von anderen her. Die anderen, die Gemeinschaft selbst ist Gegebenheit und ist Vollzug meiner Freiheit. Ich übernehme mein Zugehören zu anderen und ihr Zugehören zu mir, indem ich ich sage. Dies aber ist nicht entfremdende Last, sondern die Offenheit ins Ganze, die Weite des Gefüges, in dem mein eigenes Leben erst zum Bild des göttlichen Lebens gerinnt, jenes Lebens, das in dreifaltiger Gemeinschaft von Anfang und Ursprung her geschieht. Berufungspastoral um die Jahrtausendwende wird Einübung in eine solche Anthropologie des Rufes sein müssen. Nur wenn unser ganzes Menschsein und Christsein davon durchstimmt wird, nur wenn die Kirche in solchem Durchstimmtsein aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes geeintes Volk sein wird, hängt geistliche Berufung im besonderen nicht in der Luft, sondern ist konkreter Ernstfall, menschlich gültige Ausprägung dessen, was ich je selber bin. Wenn Menschsein, wenn Christsein Gerufensein bedeutet, dann wird die Frage unausweichlich: Wohin ruft er mich?