Neuer Ansatz in Sicht?

Neuer Ansatz in Sicht?

[10] Leere Kirchen und leere Priesterseminare sind nicht alles, wenn es um eine Bestandsaufnahme unserer pastoralen Situation geht. Rezepte dafür, wie Kirchen und Priesterseminare wieder aufgefüllt werden, sind ebenfalls nicht alles. Wir dürfen nicht in die Engführung geraten, als ob unsere Pastoral nur dazu da sei, daß die innerkirchliche Situation wieder stimmt, daß jene, die drinnen sind, wieder aktiver drinnen sind und daß die Zahl derer, die auswandern, abnimmt. Beides müßte Folge, kann aber nicht das erste Ziel einer erneuerten Pastoral sein. Kirchliches Leben bleibt dann im Grunde uninteressante Sonderwelt, ein notfalls entbehrlicher Punkt auf der Liste der Freizeit- und Luxusartikel, wenn nicht erfahrbar wird, daß hier der ganze Gott und darum auch der ganze Mensch im Spiel sind. Gott erweist sich gerade darin als Gott, daß er nicht etwas vom Menschen will, sondern den Menschen selbst. Paulus sagt: „Nicht das Euere suche ich, sondern euch“ (2 Kor 12,14). Und hier liegt doch die Abneigung, die Enttäuschung, die Ratlosigkeit vieler gegenüber der Kirche begründet, daß sie den Eindruck haben: Die wollen nur etwas von mir; und ich selbst, das, was mich wirklich bewegt, mein Leben, meine Welt bleiben draußen.

Die Situation der Pastoral ist die Situation des Menschen, ist die Situation der Gesellschaft, die Situation der Zeit. [11] Wo unsere Fragen und Maßnahmen kürzer greifen oder wo der „Erfahrungsbezug“ und „Lebensbezug“ nur ein Einstieg bleiben, der mit dem dritten Satz der Predigt bereits wieder vergessen ist, da bringt sich die Pastoral nicht nur um ihren Effekt, sondern um ihren Auftrag. Sie unterbietet das Maß, das ihr von der Sorge, vom Interesse Jesu selbst gesetzt ist: Leidenschaft für den Vater und gerade darum Leidenschaft für den Menschen, für den ganzen Menschen, für alle Menschen.

Interesse am ganzen Menschen ist nur realistisch als Interesse an diesem Menschen; Interesse an allen Menschen ist nur realistisch als Interesse auch am Nächsten. Und doch ist auch dieser Mensch, ist auch der Nächste nicht ganz da, wo ich nur seine Nöte, nur seine Probleme, nur seine Interessen im Auge habe. „Jeder ist er selbst und sein Geschlecht“, formuliert Kierkegaard einmal.1 Jeder ist er selbst und ein Stück Gesellschaft. Jedes Gesicht und jedes Schicksal tragen ihre unverkennbar nur ihnen eigenen Züge, und doch spiegeln sich in jedem Gesicht und in jedem Schicksal Gesicht und Schicksal anderer, Gesicht und Schicksal der Gesellschaft, ja der Menschheit. Was im Leben des einzelnen als vieldeutige oder zusammenhanglose Silbe erscheint, wird plötzlich lesbar, wenn ich auf das Wort achte, das ein gesellschaftlicher, zeitgeschichtlicher Zusammenhang mir sagt. Kann unsere Pastoral darauf verzichten, auf diese Zusammenhänge zu schauen, um in ihnen den einzelnen in seiner Einmaligkeit deutlicher orten und ihm umfassender gerecht werden zu können?


  1. (Anm. d. Bearb.) Vgl. Kierkegaard, Sören.: Der Begriff der Angst (Philosophische Bibliothek 340), Hamburg 1984, § 1. ↩︎