Glauben – wie geht das?

Neues Weltverhältnis

In Jesus Christus sind wir wieder eingesetzt in die grundsätzliche Überordnung des Menschen über seine Welt – die Elemente dieser Welt, an die wir versklavt waren, haben keine Gewalt mehr über uns, weil wir Zwang und Angst zu überwinden vermögen in dem, der uns aus aller Verfallenheit „freigeliebt“ hat (vgl. Gal 4,1–7). Darin ist uns die Welt neu geschenkt. Wir sind in eine neue Freiheit nicht nur von der Welt, sondern auch zur Welt hinein erlöst. Die Welt vermag uns wieder das zu sein, was sie von ihrem Ursprung ist: Gottes gute Schöpfung.

Frei zur Welt

Sofern wir in Jesu Verhältnis der ganzen Hingabe, der bedingungslosen Einheit mit dem Vater eingehen, sofern wir also Christi sind, wie Christus Gottes ist, gilt: „Alles ist euer“ (1 Kor 3,21).

Wir treten in Jesu Freiheit zur Welt ein. Jesus, frei, den Aussätzigen zu berühren, dem heidnischen Hauptmann den Besuch anzubieten (vgl. Mt 8,1–13), am Sabbat Ähren abzureißen, ja einen Ge- [181] lähmten zu heilen (vgl. Mk 2,23–3,6), mit den Zöllnern und Sündern zu essen (vgl. Mk 2,13–17), unbefangen der Sünderin zu begegnen und Frauen in seinem Gefolge zu dulden (vgl. Lk 7,36–8,3): dies wird in den Evangelien nicht als liberaler Protest gegen engstirnigen Konservativismus dargestellt, sondern als die neue Situation, die Jesu Verhältnis zu den Realitäten und deswegen auch zu dem Gesetz bestimmt, welches das Verhältnis zu diesen Realitäten regelt. Die Gefahren dieser Welt sind gebannt, ihre Trennungen überwunden. Hoffnung und Zuversicht für alle und dadurch neue Nähe des Menschen zu allen und allem fließen aus Gottes erbarmender Nähe, die in Jesus angesagt und angebrochen ist. Solche Freiheit steht nicht im Widerspruch zur Behutsamkeit, mit der Jesus vor dem warnt, was wahrhaft Ärgernis und Versuchung zu Unglauben und Untreue gegenüber Gott bedeutet (vgl. Mt 5,29.30; 18,8f.; 18,6). Ja, solche Vorsicht und solche Freiheit gehen Hand in Hand. Selbstgerechte Sorglosigkeit, die nicht auf den Herrn, sondern auf eigene Leistung vertraut, öffnet den Menschen jenen dunklen Mächten, die grundsätzlich in Jesus entmachtet sind (vgl. Mt 12,43–45).

Auf dem Hintergrund der Freiheit Jesu muß auch die Freiheit der jungen Gemeinde zur Mahlgemeinschaft mit den Heiden verstanden werden, wie die Apostelgeschichte sie in der Begegnung des Petrus mit dem heidnischen Hauptmann Kornelius ansagt (vgl. Apg 10,9-4-8). Genauso die Ausführungen des Paulus über die Freiheit und Rücksicht beim Genuß von Götzenopferfleisch (vgl. Röm 14 und 1 Kor 8). Wenn Christus der Herr aller Mächte und Gewalten ist, wenn in ihm die Liebe Gottes über alles andere gesiegt hat (vgl. Röm 8,35–39), dann haben Gesetzhaftes, Angsthaftes, Rücksicht auf nur Vorletztes (vgl. Gal 4 und 5; Kol 2,8–23) im christlichen Leben eigentlich keinen Platz mehr. Wohl aber Rücksicht auf den Bruder, auf den Schwächeren.

[182] Frei in der Welt über die Welt hinaus

Die Freiheit des Christen zur Welt ist zugleich Gelassenheit. Gelassenheit in Gestalt jener Sorglosigkeit, die uns immer wieder als Grundzug der Predigt Jesu begegnet (vgl. Mt 6,19–34; Lk 12,22–32).

Solche Sorglosigkeit, in der wir die Welt lassen, um sie uns schenken zu lassen, hat eine noch weiterreichende Konsequenz im christlichen Weltverhalten. Auch wenn wir alles lassen, kommen wir nicht umhin, die Welt zu gebrauchen. Und wir sollen sie gebrauchen, ist doch alles unser! Dennoch muß sich christlicher Gebrauch der Welt von dem Gebrauch der Welt durch jene unterscheiden, denen die Dinge das schlechterdings Notwendige und die Zukunft das ungewisse Resultat ihrer eigenen Sorge sind. Wir aber gehen dem kommenden Herrn entgegen, und gleichviel wie lange diese Geschichte dauert, die Zeit bis zu seiner Ankunft ist kurz, er steht immer unmittelbar vor der Tür und klopft an (vgl. Offb 3,20). Daher steht all unser Gebrauch unter dem Vorzeichen des „als ob nicht“: „Denn ich sage euch, Brüder: Die Zeit ist kurz. In Zukunft möge, wer eine Frau hat, so sein, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als sei er nicht Eigentümer geworden, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht. Ich wünsche aber, ihr wäret ohne Sorgen“ (1 Kor 7,29–31).

Jene Haltung, die ihren radikalen Ausdruck in dem gewinnt, was wir das Leben nach den evangelischen Räten nennen, ist immer und ist für jeden Christen fällig: haben, was wir haben, und gebrauchen, was wir gebrauchen, im Blick auf den nahen, in unser Leben eintretenden Herrn. Alles wird sein Geschenk und Geschenk an ihn. So gerade nicht wertlos, sondern um so kostbarer – in jener Kostbarkeit, die nur Beschenkte und Verschenkende erfahren, nicht aber solche, die angsthaft um ihren Besitz kreisen.

Um es in einem Bild auszudrücken: Die Welt ist das Zimmer, in das der Herr eintritt. Wir dürfen und sollen alle Sorge haben, daß es in diesem Zimmer schön und gastlich und in Ordnung ist. Aber es [183] wäre töricht, vor lauter Sorge darum den Gast zu übersehen, uns auf die Einrichtungsgegenstände statt auf den Gast zu konzentrieren. Ihm soll nichts fehlen, aber er soll mehr sein als das Objekt für die Objekte, die wir ihm vorstellen und anbieten. Das gilt es auch zu berücksichtigen bei unserem Verhalten zum Nächsten, zum Bruder in Not, in dem der Herr selbst von uns erkannt sein will.

Glaubensmacht und Kreuzesnachfolge

Die Gegenwart der neuen Schöpfung und ihre Zukunft sind in unserem Verhältnis zur Welt eigentümlich verschränkt. Schon jetzt ist alles unser, schon jetzt gibt es nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau, sondern wir sind „einer“ in Christus Jesus, sind in ihm neue Schöpfung – und das allein zählt (vgl. Gal 3,28; 6,15). Und doch sind auch wir noch in jenem sehnsüchtigen Harren auf die Vollgestalt der Erlösung, haben teil am Seufzen der Kreatur (vgl. Röm 8,9–25).

Zumal Paulus erfährt immer wieder diese Spannung in sich selbst: die Sehnsucht, daß das Vorläufige endet und er in das ganze und bleibende Leben bei Christus und mit ihm eintritt, und die Bereitschaft, hier und jetzt die Gemeinschaft mit Jesu Leiden geduldig durchzuhalten und so der Botschaft zum Zuge zu verhelfen, durchdringen sich. Das macht die Dramatik und Spannung seines apostolischen Dienstes aus (vgl. z. B. 2 Kor 4,8–6.10; Phil 1,12–26).

Dieselbe paradoxe Gleichzeitigkeit des Endgültigen mit dem Vorläufigen, der Glaubensmacht mit der Kreuzesnachfolge zeichnet indessen auch unsere Situation, zeichnet die Situation des Glaubenden, solange diese Weltzeit währt. Uns ist die Macht gegeben, zu bitten – und wir werden empfangen (vgl. Mt 7,7–11; Lk 11,9–13). Unser Glaube kann Berge versetzen, dem, der glaubt, ist alles möglich (vgl. Mk 11,24; 9,23). Das Hundertfältige kommt nicht erst später, sondern schon jetzt auf den zu, der alles um Jesu willen verläßt (vgl. Mk 10,30). Und doch ist uns die Bedrängnis, die Ohnmacht, die Schicksalsgemeinschaft mit Jesus vorausgesagt, das täg- [184] liche Kreuztragen aufgegeben (vgl. z. B. Mt 10,17–26; 24,9; Mk 13,9–12; Lk 21,12–19; Mk 8,34; Mt 16,24; Lk 9,23).

Solche Spannung bedeutet aber keineswegs Spaltung. Denn sowohl die sieghafte Macht über die Welt wie die Teilhabe am Leidensgeschick Jesu sind Ausdruck einer und derselben Liebe, jener Liebe, der schon alles geschenkt ist und die zugleich sich ganz verschenkt. Alles ist uns geschenkt, alles ist uns zum Verschenken gegeben, an den Herrn und an die anderen – dies, letztlich dies ist die Formel christlichen Weltverhaltens.