Neuer Ansatz in Sicht?

Neuzeit – Geschichte der Einsamkeit

Neuzeit – Zeitalter der Freiheit, Zeitalter der Mächtigkeit des Subjekts. Diese glänzende Geschichte begleitet freilich von Anfang an ein Schatten. Es ist der Schatten der Angst, es ist der Schwindel der Einsamkeit. Eine der größten Gestalten zu Beginn der Neuzeit, Blaise Pascal, sieht den Menschen haltlos in der Mitte zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen, zwischen den schweigenden Räumen des Weltalls und der stummen Welt der Mikroben und Atome.1 Der Gott eines Immanuel Kant erschrickt vor seiner eigenen Unendlichkeit: Alles ist von mir, ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit – aber woher bin denn ich?2

Die Freiheit, die alles aus sich selber kann und sich aus sich selbst vollendet, der Geist, der allem, was ist, sein Gesetz aufprägt, das Ich, das in allem, was es findet, nur seinem eigenen Spiegelbild begegnet, erschrickt vor sich, stößt ins Leere, wird sich unheimlich – es fehlt ein Gegenüber. Die Natur, die mich einst geborgen hatte, ist inzwischen zu meinem Werk geworden, sie kann mir nichts anderes mehr sagen, als was ich mir selber sage. Welt und Geschichte, die mir nicht nur dunkles Geheimnis waren, sondern auch bergender Raum meines Wohnens mit anderen und mit anderem, sind nun zum Kleid geworden, das ich mir selber geschneidert habe. Der Gott, der mich forderte, der mich rief und beschenkte, hat – so ist es doch bei vielen – aufgehört, [29] der stets bereite Partner meiner Alltäglichkeit zu sein: „Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn?“ hebt ein kennzeichnendes Gedicht bei Rainer Maria Rilke an.3

Perfekte Freiheit wird zur perfekten Einsamkeit. Liegt hier nicht das Schlüsselwort jeder Unruhe, die wir im Umschlag von Welle zu Welle unserer gegenwärtigen Entwicklung, die wir im Weitertreiben des Pluralismus in den Nachpluralismus und von einer seiner Gestalten zur anderen wahrnahmen? Mündet nicht die heroische Entschiedenheit des einzelnen oder sein sich selbst bemitleidender Rückzug aufs eigene Ich in isolierte Einsamkeit? Mündet nicht das pluralistische Nebeneinander, die bloße Toleranz, der bloße Kompromiß in eine synchronisierte Einsamkeit? Mündet nicht der totalitäre, ideologische, revolutionäre Versuch einer Erneuerung der Gesellschaft in eine kollektive Einsamkeit? Je gigantischer die Anstrengung des Menschen wird, es selbst zu schaffen, seine Freiheit selbst zu erfüllen und zu vollenden, desto mehr muß der Mensch die Grenze seiner Freiheit erfahren: Nicht er selbst hilft sich, nicht die sich selbst anstrengende Gesellschaft hilft sich und ihm, nicht einmal der als Erfüllungsgehilfe meines Ich und meines Glücks herbeizitierte Gott kann helfen, kann die Einsamkeit aufsprengen. Was nottut, ist offenbar ein neuer Ansatz, ein Ansatz, der die neuzeitliche Befangenheit des Ich, der Freiheit, des Subjekts überwindet.


  1. (Anm. d. Bearb.) Pascal, Blaise: Pensées, ed. Brunschvicg, Fragm. 72. ↩︎

  2. (Anm. d. Bearb.) Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 641/A 613. ↩︎

  3. (Anm. d. Bearb.) Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke I, Frankfurt a. M. 1955, 685. ↩︎