Neuer Ansatz in Sicht?

Neuzeit – Geschichte der Freiheit

Eine verwirrende Fülle von Entwicklungen und Beobachtungen. Gibt es in dieser Vielfalt indessen nicht doch Konturen, zeichnet sich nicht doch ein Profil? Der gemeinsame Nenner des Ganzen ist vielleicht die Freiheit. Die existentielle Neubesinnung nach dem Zusammenbruch rückte den Rang der Freiheit des einzelnen in die Mitte. Freiheit für alle, Freiheit durch den solidarischen Einsatz aller, Freiheit als Zukunft der Menschheit, dem galt das gesellschaftliche Engagement der sechziger Jahre. Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen, vom Leisten- und Konsumierenmüssen, Freiheit zum Selbstsein, Freiheit durch Sinnfindung und Selbstfindung, das bewegt den Gang unseres Jahrzehnts. [24] Freiheit zur eigenen Entscheidung, Freiheit zum Dialog, freiheitliche Ordnung der Gesellschaft, das sind die Zielvorstellungen des Pluralismus. Und auch im Nachpluralismus ist es nochmals um die größere, vollere Freiheit zu tun, wie auch immer sie verstanden oder mißverstanden wird.

Solche Geschichte der Freiheit ist aber – gerade das macht uns zu schaffen – keine gradlinige Geschichte, keine Geschichte von Fortschritt zu Fortschritt. Jede neue Gestalt von Freiheit hielt nicht ganz, was sie versprach: Wird die Freiheit des einzelnen nicht einfach überfahren von den objektiven Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher und technischer Entwicklung? Strukturen, die automatisch die Freiheit aller garantieren – ist das nicht eine Selbsttäuschung? Die Aufrichtung eines Reiches absoluter Freiheit innerhalb der Geschichte – ist das nicht eine Utopie, die den, der sie erstrebt, am Ende nicht freier, sondern unfreier macht? Freiheit, die ihre Erfüllung in der Tiefe des eigenen Selbst zu finden wähnt – läßt das nicht doch letztlich den Menschen allein?

Was sich an den Wellen der Entwicklung ablesen läßt, das bestätigt der Blick auf Pluralismus und Nachpluralismus. Dialog ohne Entscheidung – endet das nicht in Unverbindlichkeit, ja in isoliertem Nebeneinander? Freiheit, die Bindung ausschließt, verkehrt sich zur totalitären Unduldsamkeit. Jene Freiheit, welche die Revolution erreicht, ist nie jene Freiheit, welche die Revolution meint. Freiheit, die sich ins bloß Private kehrt, ist nur halbierte Freiheit; wer nicht über sich hinaus findet, findet gar nicht bis zu sich selbst.

Geschichte unserer Zeit als Geschichte der Freiheit, das stimmt nicht nur in dem letztlich doch schmalen Rahmen, der die letzten dreißig Jahre in unserer [25] westlichen Welt umspannt. Geschichte der Freiheit, so ließe sich die ganze Epoche der Neuzeit überschreiben, von der die Gelehrten sagen, daß sie spätestens jetzt an ihr Ende kommt. Wir können das Ungeheuerliche, was sich heute zuträgt, gar noch besser und genauer ermessen, wenn wir uns einen Augenblick lang zumuten, die Grundzüge dieser erregenden Epoche der Weltgeschichte zu überdenken, uns selbst in ihren größeren Horizont zu rücken.