Spiritualität und Gemeinschaft
Not und Notwendigkeit von Gemeinschaft*
Machen wir den soeben zurückgelegten Weg der Gleichung zwischen Spiritualität und Gemeinschaft einmal in der umgekehrten Richtung. Nicht nur Spiritualität, auch Gemeinschaft ist heute ein Zauberwort. Auch dies nicht ohne Grund. Zwei gegenläufige Erfahrungen kennzeichnen unsere Epoche.
Die eine ist die Erfahrung der Einsamkeit, der Isolation. Gemeinschaft ist gesucht, weil ohne sie das Leben nicht gelingt. Neuzeit ist die Geschichte des menschlichen Geistes, der sich herauslöst aus den Schalen bergender Ordnungen. In die Mitte rückte das Subjekt, das Ich, das sich seiner Macht bewußt wurde. Die Selbstthematisierung des Subjektes ermöglichte die bestürzend kühnen und nicht rückgängig zu machenden Entwicklungen der letzten vierhundert Jahre. Doch spätestens in der zweiten Hälfte der Neuzeit entdeckte der Mensch auch, daß es mit dem individuellen Ich allein nicht getan ist. Gemeinschaft wurde interessant. Aber sie wurde verstanden als kollektives Subjekt, als Gesellschaft, die zum Träger, zum souveränen Vollstrecker ihrer Geschichte aufstieg. Unsere technische Zivilisation verdankt sich dem universalen Subjekt Gesellschaft, in dem alle auf alle angewiesen, alle mit allen in einem immer dichter werdenden Netz von Funktionen verspannt sind. Aber [79] die Freiheit des Menschen, die ihren Triumph über alle Vorgegebenheiten zu feiern wähnt, verstrickt sich zusehends in sich selbst. Das eigentlich Beherrschende wird mehr das Es des Kollektivs als das Ich der Person. Und wo der einzelne sich retten will, versucht er es dadurch, daß er an den anderen vorbeikommt. So aber bleibt er letztlich allein. Die Einsamkeit der bloß aneinander vorbeigehenden Subjekte und die Einsamkeit der Masse – das scheint, in plakativer Vereinfachung gesagt, die Alternative am Ende der Neuzeit. Beides aber läßt Gemeinschaft vermissen, in der Ich, Du und Wir gewahrt sind und in Kommunikation miteinander stehen. Das Krankwerden des Menschen an seiner Einsamkeit inmitten des immer hektischer werdenden universalen Kommunikationszwanges ist das Signal solcher Entwicklung.
Es gibt aber auch die andere, die kontrastierende Erfahrung. Menschen gehen spontan, unkompliziert, offen aufeinander zu. Es bilden sich Zellen, Gruppen, Gemeinschaften, in denen ein neues Miteinander wächst. Der Sinn für Solidarität über Grenzen und Gräben hinweg erwacht. Vorurteile fallen, Menschsein wird zur Schicksalsgemeinschaft, die zugleich Haftung füreinander, engagierte Brüderlichkeit bedeutet. Die Ansätze dazu sind zaghaft, vereinzelt, aber doch unübersehbar. Sie prägen bereits das Bild unserer geistigen Situation mit.
Gemeinschaft tut not, Gemeinschaft ist fällig. Aber wie sieht solche Gemeinschaft aus? Wo findet sie ihren Weg, der nicht in Sackgassen und Enttäuschungen endet?
Wie Gemeinschaft nicht geht, das hat sich uns bereits angedeutet. Sie geht nicht, indem man sie „hat“. Es wäre Versuchung und Selbsttäuschung, wenn wir Christen behaupten wollten: „Wir haben doch die Kirche, und Kir- [80] che ist Gemeinschaft. Wir haben, was die Menschen suchen, wir brauchen es ihnen nur anzubieten.“ Die fertige Institution, die vorgeprägte Form, das über die ungeformte Wirklichkeit überstülpbare Modell verängstigen und vergewaltigen den Menschen, drücken ihn in sich selbst hinein, statt ihn aus sich herauszuholen und zu seinem Nächsten hinzuführen. Was überkommen und überliefert ist, bewährt seine Gültigkeit, Tragfähigkeit, Lebendigkeit nur, indem es je neu erzeugt, wie zum erstenmal getan und gelebt wird. Es ist wie bei einer Ehe, die sich ganz gewiß auf den einmal gesetzten Anfang berufen muß; aber die Treue zu diesem Anfang ist kein Automatismus, sondern die je neue Entscheidung eines jeden Tages.
Gemeinschaft geht genausowenig, indem man sie „macht“. Sie läßt sich weder erzwingen und verordnen noch durch Methoden manipulieren und fabrizieren. Das System, das uns in seinen Funktionszusammenhang oder ins Netz seiner Ideologie hineinzwingt, bricht nicht uns selbst zueinander hin auf. Es bringt nur addierte Einsamkeit zustande, es nivelliert jenes Ich und jenes Du, aus denen allein lebendiges Wir entstehen könnte. Methoden, mit denen man seine Einsamkeit überspielt und Kommunikationsbarrieren abbaut, mögen von Nutzen sein, um Schwierigkeiten zu mindern, die der Gemeinschaft im Wege stehen. Aber Bagger, Kräne und Gerüststangen sind nichts ohne die Bausteine, aus denen das Haus entstehen muß.
Bausteine der Gemeinschaft sind deine und meine Freiheit. Freiheit kann durch nichts ersetzt werden, sie muß sich selber in Gang bringen, muß selber den Weg des Zueinander bahnen. Natürlich wäre es zu simpel, bloß die Freiheit des einzelnen großzuschreiben gegen Zwang, Manipulation, Methode, System. Wo Freiheit [81] sich nur selbst bewahrt, da kommen wir bestenfalls aneinander vorbei, nie aber zueinander. Zwar ist es besser, aneinander vorbeizukommen, als zusammenzustoßen, glatter Kompromiß ist besser als zerstörerischer Konflikt. Aber dieser Weg führt nicht weiter als bis zur Synchronisierung der Einsamkeit und schafft das eine gerade nicht: Gemeinschaft.