Trinität und Zeit
Not und Segen der Zeit: Zeit ist Zwischenzeit
Haben wir indessen nicht ein entscheidendes Moment vergessen? Wir sprachen von dem Subjekt, von dem Menschen. Aber Menschen – ist das nicht ein Plural? Hier berühren wir gar den Nerv neuzeitlicher Zeitnot. Neuzeitliches Denken geht, in der Tradition der klassischen Philosophie, in welche das trinitarische Gottesverständnis keinen tiefgreifenden Wandel eingetragen hatte, von dem Subjekt, von dem Selbstbewußtsein aus. Dieser Ansatz verschärft sich noch durch die thematisierte Selbstreflexion, welche eben die Mitte neuzeitlichen Denkens ausmacht. Der Mensch, der einzelne, wird, ungeachtet seiner absoluten Personenwürde, als Gattungswesen betrachtet, also zum Einzelfall eines allgemeinen „Modells“. Die Synchronisierung der einzelnen Subjekte in der Instrumentalisierung dessen, was das Subjekt ist und kann und vermag, führt zu unterschiedlichen Problemlösungen. Die drei generellen Typen brauchen nicht näher erläutert zu werden: Was das Subjekt kann, wird sozusagen von einem Herrschenden oder einer Gruppe von Herrschenden mit Hilfe der anderen und, wie die Selbstrechtfertigung lautet, zum Wohl der anderen instrumentalisiert – im freien Zusammenspiel der einzelnen setzt sich die Logik des Subjekts kraft des Vorsprungs des organisierenden Intellekts und derer, die die Mittel haben, ihre Pläne ins Werk zu setzen, durch – das Kollektiv versteht sich selber als das Subjekt und organisiert sein eigenes [352] Werk in kollektiver Verantwortung, wobei aber dieselben Strukturen bestimmend bleiben wie in den beiden erstgenannten Versuchen. Der Punkt, auf den es hierbei ankommt: Immer wird das Verhältnis der vielen Subjekte zueinander dadurch bestimmt, daß sie in der Nötigung stehen, das Eine zu vollbringen, was aus der Selbstreflexion und dem Selbstentwurf neuzeitlicher Subjektivität und ihrer sich funktionalisierenden und rationalisierenden Möglichkeiten entspringt. Die Beziehung zwischen den Subjekten ist also vermittelt durch den Apparat, in dem sie zusammenwirken, der in ihnen sozusagen sich selbst verwirklicht als das alle einbegreifende Über-Subjekt.
Dies hat aber für die Konstitution der Zeit tiefgreifende Konsequenzen. Zeit hat in einem solchen System, gleichviel, ob es sich nun absolutistisch, liberalistisch oder sozialistisch verfaßt, den Zug einer eigentümlichen Einsamkeit an sich. Sie ist Zeit je meiner Brauchbarkeit für das Werk des Ganzen. Hierbei kann ich die Zeit dieser meiner Brauchbarkeit verstehen als Zwischenzeit zwischen den mir verbleibenden Frei-zeiten, die aber im System eine genau andere Funktion haben: Sie sind Zwischenzeiten der Regeneration der Kräfte zwischen den eigentlich nutzbaren Zeiten der Leistung im Werk des Ganzen. Die Freizeiten werden Leerzeiten, über die der einzelne vielleicht verfügen darf, wobei die Frage bleibt, wie lange er noch die Kraft behält, sie zu gestalten, bis das Zweitsystem der Freizeitindustrie als Schatten und Produkt des Erstsystems wiederum diese Leerzeiten auffrißt. Jedenfalls setzt sich ein fundamental von überlieferter Zeit abgehobener Sinn der nicht durch Erwerbsarbeit belegten Zwischenzeiten durch: gesellschaftliche Leerzeit zur Regeneration, privatisierte Freizeit zu Verfügung und Konsum. Was ausfällt, ist hingegen jene Zeit, in welcher die Gesellschaft ihren Sinn, ihre Gleichzeitigkeit, ihr sie überragendes Woher und Wohin gemeinsam feiert und erfährt. Kult fällt aus der Zeit aus, Sonntag entfremdet zum Wochenende.
Zwei Folgen zeitigen sich mit logischer Stringenz: Einmal wird es immer schwerer, unmittelbare, nicht mediatisierte und medialisierte Zeit miteinander zu erleben, eben in Gespräch und Feier, Zuwendung und Muße. Zum anderen droht existentielle Katastrophe, wo die Zeit des einzelnen nicht mehr für das gemeinsame Werk gebraucht wird. Selbst wo wirtschaftliche Notstände, die aus Arbeitslosigkeit erwachsen, steuerbar werden, bleibt die fundamentale Sinnleere zurück: Zeit, die für nichts mehr gebraucht wird, wird zur Zeit eines, der nicht mehr gebraucht wird, Zeit, die für nichts mehr gut ist, scheint für niemand mehr gut, und am Ende ist Dasein dem, dessen Zeit nicht gebraucht wird, überhaupt nicht mehr gut. Daß hier große gesellschaftliche und pastorale Aufgaben harren, liegt auf der Hand, aber sie können nicht [353] gemäß geleistet werden, wenn dabei nicht der anthropologische, ja der epochale Hintergrund mit in den Blick tritt.
Wir können an dieser scheinbar allein an gegenwärtiger Aktualität orientierter Überlegung indessen auf drei fundamentale Konstituentien von Zeit überhaupt aufmerksam werden. Sie als Konstituentien von Zeit sehen heißt einen anderen Ansatz von Zeit als den neuzeitlichen ins Visier nehmen.
Zeit ist in dreifacher Hinsicht Zwischenzeit:
– Erste Hinsicht: Zeitliche Gegenwart ist Gegenwart zwischen einem Vorher und einem Nachher, zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht. Wie immer Zeit angeschaut oder gedacht wird, ihre Zeitlichkeit geht nur dann auf, wenn ich mich vorstellend oder denkend in sie einlasse, mich in ihr Innen hineinbegebe. Und dieses Innen ist stets ein Zwischen, ist je die Flüchtigkeit des Jetzt zwischen dem unwiderruflich entglittenen und dem unberührbar ausstehenden Jetzt, die eben nicht mehr bzw. noch nicht jetzt sind. Wir scheinen zu unserer Ausgangsparabel zurückzukehren: Zeit – Übermacht der Herkunft und der Zukunft über die Furche des Jetzt, wie immer ich mich in ihr drehen, wenden, verhalten mag. Die tragische Stimmung dieser Parabel ist freilich nicht die einzige Zeiterfahrung; denn Zeiterfahrung ist immer durch den Charakter des Ernstes ausgezeichnet, aber es gibt auch den Ernst der Gelassenheit und Geborgenheit, wo das Jetzt sich umfangen weiß von der Gunst des Woher und Wohin. Damit aber hätten wir bereits eine weitere Perspektive erreicht.
– Zweite Hinsicht: Zeit ist immer Zwischenzeit, will sagen Beziehungszeit zwischen dem Gezeitigten und dem Zeitigenden, zwischen dem Zeitlichen und der es zeitigenden Herkunft und Zukunft. Die im Bild wie von selbst in der Waagerechte angeschaute lineare Verlaufszeit dreht sich zur Senkrechten, in welcher seit altersher die Abhängigkeit der Erde vom Himmel, des Zeitlichen vom Überzeitlichen versinnbildet wird. Daß ich zeitlich verfaßt bin, daß das Leben und die Welt zeitlich verfaßt sind, das wird zum Hinweis darauf, daß Zeitlichsein sich nicht selber trägt, sondern das, was zeitlich ist, gerade deshalb zeitlich ist, weil es nicht von sich selber stammt und nicht in sich selber mündet.
Wird mit dieser Aussage nicht Kants Kritik an der Reduktion der Zeitlichkeit auf die Kausalität und der Extrapolation der Kausalität aus dem Raum der Empirie übersprungen? Gewiß, diese Kritik Kants bleibt hier nicht das letzte Wort. Die großen Philosophien der Zeit sind ja auch merkwürdigerweise erst nach Kant, durchaus in der respektierenden Kenntnisnahme seiner Kritik und doch in Abhebung [354] von ihr entstanden; ich erinnere an Kierkegaard, Heidegger und Rosenzweig. Es geht uns hier jedoch nicht um eine philosophische Aufarbeitung der entsprechenden Problematik. Wohl aber kann die Zeiterfahrung am Ende der Neuzeit, auf die wir anspielten, etwas wie eine innere Grenze jenes Zeitverständnisses offenlegen, das bei der Selbst- und Weltanschauung des Subjekts, bei seinem Selbstbezug ansetzt. Sozusagen außerhalb des systematischen Gedankenaufbaus seiner Zurückweisung des kosmologischen Gottesbeweises schreibt Kant den Satz: „Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: daß ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selber sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn?“1 Gott selber wird hier in seiner Absolutheit doch als das „Zwischen“ vorgestellt, zwischen Ewigkeit und Ewigkeit als Herkunfts- und Zukunftsraum seines Jetzt. Auch wenn diese Ewigkeit von Gott, von seiner Ursprünglichkeit nicht getrennt, sondern nur von ihr her gelesen werden kann, droht sie doch den, der sich in dieser Ewigkeit anschaut, zu verschlingen. Trifft dieser Blick auf den sich seiner Ewigkeit innewerdenden Gott in Kants Text indessen nicht viel eher das neuzeitliche Subjekt, das sich und alles aus sich setzt, dabei aber gerade von dem Erschrecken vor sich selbst und der Einsamkeit mit sich selbst überwältigt wird? Bleibt nicht Zeitlichkeit als solche ihm doch die Marke dessen, der Wegweiser darauf hin, daß es selbst und alles versiegelt sind unter einer aller Zeitlichkeit vorenthaltenen und sich doch in ihr bekundenden Gewähr? Sind die drei Zeitekstasen nicht doch „Sakrament“ der verborgenen Gegenwart des Geheimnisses, das Herkunft und Zukunft aller Gegenwart, aller Herkunft und aller Zukunft ist? Dann aber wäre Zeitlichkeit ebenso die Abwesenheit wie die Anwesenheit dessen, wodurch sie allererst konstituiert ist. Zeit zeigt sich hier als das Zeichen, das vom unberührbaren Geheimnis und vom zeitlich seienden Subjekt zugleich ausgeht, als das Zwischen der Beziehung. Zeit ohne Kult ist also nicht ganze, nicht heile Zeit.
– Dritte Hinsicht: Zeit ist Zwischenzeit zwischen dir und mir, zwischen uns. Hier liegt der Punkt, an dem Zeit sich als Zwischenzeit uns enthüllte. Wir müssen diese dritte Dimension von allem Anfang an mitdenken, ja, sie ist im Grunde konstitutiv für das „andere“, nachneuzeitliche Zeitbewußtsein. Die Furche läuft nicht nur längs, sie geht nicht nur von unten nach oben und von oben nach unten, sondern sie [355] stellt sich auch quer: zwischen uns. Wir sind einander Herkunft und Zukunft, und nur wo wir dies wechselseitig ergreifen und ernst nehmen, gelingt Gegenwart, die nicht lastendes Stehenbleiben des in sich verharrenden Ich oder Moment auf der Flucht des Ich vor sich selber ist. Zeit, die als Zwischenzeit im kommunikativen Sinn verstanden wird, hat in sich vier Erstreckungen.
– Erste Erstreckung: von dir zu mir. Ich werde angeblickt, angerufen, zu mir selber erweckt. Weil du mich angehst, komme ich zu mir; weil ich deine Zukunft bin, werde ich mir gegenwärtig. Ich sehe mich – von dir her. Du meine Herkunft, ich deine Zukunft, wir uns gegenwärtig.
– Zweite Erstreckung: von mir zu dir. Der Strahl meines Ich geht auf, aber faßt sich noch nicht, bis er auf Wahrnehmung, Verstehen, Gegenüber trifft. Indem du mir gegenwärtig wirst, werde ich mir es selbst, finde Zukunft in dir.
– Dritte Erstreckung: vom Wir zu dir und mir. Erst im Gespräch, erst in der Gegenwart füreinander, erst in der einen Mitte, die uns gegenseitig füreinander lichtet, wird es möglich, Position zu beziehen, mich selbst als verantwortliche Herkunft zu entdecken und einzubringen und verantwortet Zukunft zu übernehmen.
– Vierte Erstreckung: von der bloßen Verlaufszeit zur Gegenwart. Natürlich bleibt das Gespräch, bleibt die Kommunikation eingetaucht in jene Verlaufszeit, die das Jetzt nicht stehen läßt, Zukunft vorenthält, Vergangenheit unberührbar versiegelt. Aber dieses Ineinander der sich ausschließenden Zeitdimensionen zerschmilzt in den Raum je neuer Übernahme und Annahme, in eine bewegte und doch bergende Gegenwart, wo wir Zukunft und Herkunft je von mir und dir her einbringen ins Zwischen, sie aufdecken füreinander, sie einander erzählen, ausliefern.
Es geht also darum, miteinander Zeit zu teilen, und nur so kann Zeit geheilt werden.
Letztlich käme es darauf an, daß auch Zeit, die zwischen dem entzogenen Ursprung ihrer selbst und dem antwortenden Selbst des Menschen spielt (Zeit als „vertikale Zwischenzeit“), Zeit zwischen uns („horizontale Zwischenzeit“) würde. Wir sprachen bereits vom Kult. Er ist in letzter Konsequenz Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen, Gemeinschaft aber, die sich in der Gemeinschaft der Menschen miteinander begibt und aus der Gemeinschaft der Menschen miteinander erwächst.
Hat sich uns unter der Hand nicht ein zu positives Bild, ein zu heiles Bild von Zeit ergeben? Daß Zeit nicht nur die Zeit des Es und des einsamen Ich, daß sie nicht nur Zwischenzeit als Verlaufszeit ist, sondern [356] als Zeit zwischen Himmel und Erde, zwischen Du und Ich, bedeutet gewiß ein Heilszeichen. Aber diese Struktur als solche gewährt noch keineswegs, daß sie, daß also Zeit, daß also zeitliches Dasein gelingt. Das zerbrochene Wir, der sich versagende Gott, ja der in der Konzentration des Ich auf sich oder des Wir auf seinen babylonischen Turm verdunkelte Gott, dieser Schatten, diese Möglichkeit kann nicht durch Analyse oder durch bloße eigene Anstrengung gebannt werden. Zeitlichkeit ist und bleibt Zeichen der Auslieferung, der dreifachen Auslieferung des Ich an sich, des Ich an das Geschick, des Ich an die anderen Ich. Wie aber kann Heil kommen? Es muß sich ereignen, sich selber schenken. Sonst bleibt die Zeit leer, „wird es nicht Zeit“.
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Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (Philosophische Bibliothek 37a), Hamburg 1956, B 641/A 613. ↩︎