Der Himmel ist zwischen uns

Ökumene

Jesu Gegenwart unter denen, die in seinem Namen versammelt sind, ist keine „konfessionelle Spezialität“ innerhalb der getrennten Christenheit. Und zugleich ist sie doch eine Provokation gegen alle Trennung: versammelt in seinem Namen. So ist es kaum verwunderlich, dass dort, wo Menschen in besonderer Weise ihr Leben unter diese Verheißung stellten, auch tiefe Beziehungen über die Grenzen der eigenen Kirche hinweg entstanden sind. Das Gebet Jesu „Lass alle eins sein“ und das Versprechen seiner Gegenwart zwischen denen, die sich in seinem Namen versammeln, gehören von innen her zusammen.

Was einzelne – und es sind wahrlich mehr als nur einzelne – an ökumenischer Erfahrung gewonnen haben, indem sie im Namen Jesu aufeinander zugingen, das zeichnet einen Weg vor, der auch Einladung für andere ist. Die Etappen dieses Weges sind dieselben wie überall, wo Menschen sich um [80] Jesus in ihrer Mitte mühen. Aber es lohnt sich, sie ausdrücklich auf Ökumene hin zu lesen.

Die Entscheidung für Gott, die klare Wahl, dass Jesus, sein Wille, sein Evangelium wichtiger sind als alles andere, steht am Anfang. Das bedeutet zum einen eine radikale Offenheit: Herr, du kannst mit mir machen, was du willst. Wenn es dein Wille ist, dass alle eins seien, dann frage ich nicht, wie viele Opfer mich das kostet und wie viele Chancen dieses Unterfangen sich menschlich ausrechnen kann. Zum anderen – aber ist dies überhaupt etwas anderes? – bindet mich die Entscheidung für Gott freilich in eine genauso radikale Treue. Wenn ich glauben muss, dass etwas dein Wille ist, dass etwas deine Wahrheit ist, dann lasse ich nichts davon zu Boden fallen. Auch dann nicht, wenn es mir oder dem anderen weh tut, auch dann nicht, wenn es die Aussichten auf unsere Annäherung verringert. Bloße Pragmatik und bloßer Kompromiss sind ebenso ausgeschlossen wie Bequemlichkeit und Rechthaberei.

Nur dort kann Jesus zwischen uns sein, wo es uns um ihn vor allem anderen geht. Und wo es uns um ihn geht, da erhält sein Wort für uns einen neuen Stellenwert. Was du, Herr, mir schenkst und was du von mir willst, ist einzig interessant – und ich erfahre es aus deinem Wort. Das Wort für mich ist aber auch das Wort für den anderen, das Wort für uns. Aufs erste sieht der Weg des anderen, der sich ebenfalls für Gott entscheidet, freilich anders aus als der meine. Dass diese Wege zusammengehören und zusammenführen, geht uns auf an dem einen Wort, das jedem von uns gesagt ist, das jeden von uns auf seinen Weg bringt. Gemeinsames Hören auf das Wort, gemeinsames Leben aus dem Wort – gerade so wächst Jesu Gegenwart zwischen uns, auch und zumal zwischen getrennten Christen. Die Entscheidung für Gott, die jeder trifft, ist [81] nicht das einzige und erste Fundament der Gemeinsamkeit. Den Anfang hat vielmehr Gott schon in unserer Taufe gemacht. Dass der eine Herr und die eine Taufe uns bereits im tiefsten verbinden, tritt aber erst ans Licht, wenn wir uns durch unser Tun gemeinsam auf dieses Fundament stellen. Und wir tun es, wenn wir uns das eine Wort sagen lassen, wenn wir das eine Wort unser Leben und unser gegenseitiges Verhältnis prägen lassen. Der hohe Rang, den in ökumenischer Begegnung die Schrift allenthalben einnimmt, ist nicht ein Ausweichen, weil in Sakrament und Amt die Trennung vorherrscht. Wir müssen zuerst einmal so aufeinander hören, dass wir dabei auf uns selbst und auf den Herrn hören. So bahnt sich Versammeltsein in seinem Namen an. Und nicht nur der Herr schenkt uns sein eines Wort, wir dürfen es auch einander schenken. Ich lerne mit deinen Ohren, mit deinem Herzen Gottes Wort hören. Mehr noch: Ich lerne es aus deinem Leben her verstehen, indem wir unsere Erfahrungen aus dem Wort miteinander austauschen. Denn Leben aus dem Wort ist mehr als bloße Auslegung, es ist „Inkarnation“. Und indem wir das eine Wort aufeinander zu und miteinander leben, gewinnt der eine Leib, zu dem wir berufen sind, bereits Kontur.

Es kann nicht anders sein: Das eine Wort führt uns hinein in die eine Mitte dessen, was der Herr von uns will, zum Neuen Gebot, zu seinem Gebot. Wir sind es schuldig, einander so zu lieben, wie er uns geliebt hat (vgl. Joh 13,34; 15,12). Mag es in der Auslegung dieses oder jenes Wortes zwischen uns Unterschiede geben, in der Liebe gibt es keinen Vorbehalt, kein Ja-aber. So ungetrübt wie die Hingabe des Herrn für jeden von uns, so ungetrübt muss auch unser Ja zueinander geschehen. Solche Liebe duldet keine Pausen. Bei allem, was ich sage, denke, rede und tue, darf das Ja dieser Liebe nicht [85] verletzt werden. Und immer liegt es an mir, in solcher Liebe den ersten Schritt zu tun. Ich warte nicht, bis der andere auch … Paritätisches Kalkül hat in dieser Liebe keinen Ort. Über die Grenzen der Konfessionen hinweg können wir den Pakt jener Barmherzigkeit miteinander schließen, in der wir einander versprechen, dem anderen nichts nachzutragen, je neu wieder miteinander anzufangen. Den Pakt jener Liebe, die nach dem Maß Jesu bereit ist, für den anderen auch das Leben zu geben. Werden wir so nicht zuversichtlich sein dürfen, dass er in unserer Mitte ist und uns jenes Licht schenkt, das falsche Trennungen aufdeckt und in die volle Einheit überwinden hilft?

Wenn ich über die Grenzen der Konfessionen hinweg mit Jesus in der Mitte leben kann, so wird es dieser Jesus nicht zulassen, dass ich mich aus der Einheit meiner Kirche herauslöse und ihn nicht auch und gerade dort in der Mitte meiner Glaubensbrüder suche. Jesus inmitten meiner Kirche, das hat aber zur Bedingung, dass ich auf Jesus in jenem höre, der mir in seinem Namen und in seiner Sendung begegnet, auf Jesus, der durchs Amt in der Kirche spricht. Das Versprechen aneinander, immer in der gegenseitigen Liebe zu bleiben und, wenn wir sie einmal verletzt haben sollten, sofort wieder zu ihr zurückzukehren, dieser Pakt der gegenseitigen Liebe wird uns so nicht im konfessionellen Niemandsland ansiedeln, sondern erst recht die Spannung erfahren lassen zwischen der vollen Einheit in der Liebe und der noch unvollkommenen Einheit in der Wahrheit. Diese Spannung wird freilich dynamisch werden, wird zur Leidenschaft werden, dass nicht nur einzelne, sondern die Kirchen zueinander unterwegs bleiben. Und diese Spannung wird fruchtbar werden für die Einheit, da es eben keine andere Fruchtbarkeit gibt als jene des Weizenkorns, das in die Erde fällt und stirbt.

[83] Ostern kommt aus dem Karfreitag, Jesus geht durch Verlassenheit und Tod, um in unserer Mitte aufzuerstehen. Darum ist der kürzeste Weg zu Jesus in der Mitte, auch zwischen den Kirchen, nicht das Ausweichen vor dem, was uns trennt, nicht das Überkleistern dessen, was uns trennt, nicht das halbherzige Entgegenkommen in Formelkompromissen, nicht die Nivellierung, sondern das Ja zum Gekreuzigten. Er ist hineingespannt in unsere Fragen, in unsere Dunkelheiten, in unsere Ohnmacht. Wo wir das annehmen, da kann Gottes Schwäche stärker werden als wir und Gottes Torheit weiser als wir (vgl. 1 Kor 1,25). Gerade was uns trennt, will Schlüssel zur Einheit werden, gerade was uns schmerzt, Tor zur Freude, gerade das, was nicht Paradies ist, zu jener verschlossenen Tür, durch die er in unsere Mitte tritt.

Jesus in unserer Mitte ist das Endgültige im Vorläufigen. Er ist Licht und Kraft für die fälligen Schritte aufs Endgültige zu, Licht und Kraft aber auch zum Aufeinander-Warten, zur Geduld, die nichts vorwegnimmt. Dies ist das Grundgesetz für die Zeit der Kirche, auch für die Zeit der Ökumene.

Manche neigen heute leicht dazu, sich mit einer Ökumene des Minimum zu begnügen. Dies geschieht auf zweierlei Spielart. Die eine: Man ist ernüchtert, weil es mit den Lehrunterschieden, den auseinandergewachsenen Lebens- und Denkweisen doch nicht so einfach ist, wie zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils viele glaubten. Dass eine ortlose Ökumene zwischen den Kirchen mehr auflöst als aufbaut, kommt als schmerzliche Einsicht hinzu. Deshalb beschränkt man sich auf ein freundliches Nebeneinander. Eine volle und leibhaftige Einheit der Kirchen wird als Ziel aufgegeben; man hält die Hoffnung auf sie für unrealistisch oder erklärt gar dieses Nebeneinander schon zu jener Einheit in Vielfalt, wie sie dem Neuen Testament entspreche.

[84] Die andere Spielart: Man stellt sich die Frage, ob die Unterschiede zwischen den Kirchen schwerwiegender sind als jene Gegensätze, die innerhalb der einzelnen Kirchen heute aufbrechen. Hat sich nicht doch in den letzten Jahrzehnten vieles bewegt, sind wir nicht doch aus manchen Scheinfragen, die zwischen uns standen, herausgewachsen und haben den Weg über manche Gräben, die uns trennten, geschafft? Bei der fundamentalen Bedrohung des christlichen Glaubens hält man es nicht mehr für verantwortbar, das, was uns trennt, als kirchentrennend anzuerkennen – und so glaubt man, eine faktische Einheit auch mit der sakramentalen Gemeinschaft um den Tisch des Herrn besiegeln zu sollen.

Aber führt der Weg, der sich uns gezeigt hat, nicht weiter als diese beiden Wege, die im Grunde bei dem stehen bleiben, was wir bereits erreicht haben? Das aber wäre vor dem Vermächtnis und der Verheißung des Herrn zuwenig.