Besprechung der Habilitationsschriften von Bernhard Casper und Peter Hünermann
Offene Fragen im Hinblick auf ein „neues Denken“*
Der versuchte Durchgang durch die Untersuchungen von Casper und Hünermann läßt nun [387] noch jene Fragen übrig, die der eingangs angesetzte Hinblick auf ihr Anliegen und ihre Sache eröffnete.
Die wichtigste Frage ist die nach dem „neuen“, nicht mehr „metaphysischen“ Denken, das sich in den interpretierten Gedanken Bahn bricht und in den interpretierenden Gedanken neue Gestalt und Gewalt gewinnt. Dieses neue Denken ist in seiner – im Rahmen des Behandelten – bedeutsamsten Ausbildung durch Caspers Rosenzweigdeutung vorgestellt und wird in Hünermanns gewichtigem Schlußwort (371–426) am weitesten vorgetrieben. Es ist – so wurde wiederholt schon gesagt – Denken, welches der Zeit und des Anderen bedarf. Demgemäß wird der Versuch, sein Wesen in einer Kurzinformation über das Gesagte der genannten Abschnitte zu fassen, per definitionem scheitern. So kann das Bedeutsamste der zu besprechenden Bücher gerade nicht inhaltlich zusammengefaßt, es kann nur darauf verwiesen werden. Da Hünermanns Schlußkapitel „Geschichte und Offenbarung – Rückbesinnung und Ausblick“ am Ende des Weges steht, den Casper geht, und des Gespräches, das Hünermann führt, wobei beide in Weg und Gespräch miteinander verbunden sind, vermag es uns das Geleit zu geben zum verweisenden Hinblick aufs selbe.
Metaphysisches Denken (dazu bes. Hünermann 378–380) ist jenes, das alles, was ist, denkend zu bewältigen, somit aber dem Denken einzubegreifen sucht. Und dies geschieht, indem es alles, was ist, auf seinen Grund zurückführt, welcher es ermöglicht. Der Grund ist das dem Denken alles Klärende, somit das in sich Klare, nicht mehr zu Klärende, die alles verständlich machende Selbstverständlichkeit. In dieser ist die Zeit nur der Ablauf des Vorganges dessen, was ist, aus dem Grund, die Vollstreckung des Grundes, bzw. Ablauf des Rückgangs dessen, was ist, seiner Aufhebung in den erklärenden Grund, fixe Folge der Erklärbarkeiten aus dem Erklärenden. Was ist, ist so das Erklärte, Durchschaute, mit seinem washaften Wesen Abzugeltende, das „Es“, dessen Da im Grunde verankert, quantitative Multiplikation seines Was ist, ohne Belang an sich selbst. Das Da des Es ist nichts Neues zu seinem Was, und dies ist nichts Neues zum einbefassend erklärenden Grund, und dieser ist in sich nichts „Neues“, sondern eben das dem Denken Selbstverständliche, so im Grunde selbst ein Es.
Solches Denken aber versagt vor der Geschichte. Nicht weil etwas in ihr vorkäme, was dem bewältigenden Zugriff des erklärenden Denkens sich nicht darböte. Aber weil es in solcher Erklärung von sich selbst, von seinem eigenen Aufgang weggerissen wird in die Einstellung ins Zeitlose. Als das betreffende Ereignis, als der unselbstverständliche Aufgang entgeht es und verschwindet es in der Reduktion auf die Gründe der Erklärbarkeit. Was entgeht? Das je Geschehende. Und was ist dieses je Geschehende? Darauf gibt es zwei Antworten: entweder es ist der Fall eines Was, welches immer schon dieses Was ist, oder aber es ist es selbst. Und es selbst ist das Geschehende, sofern es zwischen dir und mir geschieht, sofern es uns angeht und in solchem Angehen, das wir bezeugen, aufgeht in die Welt, sich überliefert zur weiterzeugenden Übersetzung in je neue Weltgestalt hinein. Zwischen dir und mir aber spielt nicht die eshaft verfügende Sprache als der Inbegriff verlauteter Begriffszeichen, sondern Anrede und Antwort, in der wir uns einander gewähren und gewährt sind und doch einander nie ins Restlose erklärt, als wir selbst aufgelöst und abgegolten sind, sondern je neu der Begegnung und des Aufgangs füreinander fähig (vgl. etwa Hünermann 389f.). Indem wir aber einander gewährt und also entzogen sind, ist uns gewährt und entzogen, was ist, ist es das geschehend sich uns Zuschickende, das Angehende und Betreffende, das darin sich zueignet und sich an sich hält, es ist es selbst, es selbst aber zwischen uns, den Sprechenden, aufgehend im Zeugnis des Du und Ich von sich und allem.
Das Sein, das sich nicht mehr als die Erklärbarkeit seiner selbst aus der eshaften Selbstverständlichkeit seines Grundes darlegt, sondern aufgeht im Zeugnis, ist nichts mehr neben der Zeit, es ist selbst Zeit, Zeit als die Gewähr und der Entzug des Seienden an den Menschen und die Gewähr und der Entzug des Menschen für sich und d. h. der Menschen füreinander, als Sich-Ergeben des Seienden an den Menschen und Ergehen des Menschen ins Seiende, als Aufgang des Seienden in sein Was als in sein Vergehen, das sich aufbewahrt im Gedenken des Menschen, und Vergehen des Menschen in den Aufgang des Seienden, den er sich vollbringend vollbringt; sich vollbringend aber vollbringt er sich in sein Ende, das der Tod ist und welches du bist (vgl. Hünermann 382–385).
„So wäre Geschichte zu bestimmen als das Gefüge von Welt und Welten, Mensch und [388] Menschheit, welches – einbehalten ins Ereignis des Seins und der Zeit – im Zeugnis des Menschen licht wird.“ (Hünermann 388)
Das Denken, das in solcher Geschichtlichkeit des Seins als der sie gewahrende und wahrende Dialog geschieht, welcher selbst geschichtlich wird als die je neue Übersetzung seiner selbst, ist Freigabe; es ist nicht Resultat einer Analyse, sondern die Umkehr, in welcher der Behauptung des Selbst und des von ihm vorausgesetzten Grundes der Abschied gegeben wird ins bezeugende Verdanken des Unselbstverständlichen. „Was erregt dieses Staunen und Wundern? Jenes namenlose Geheimnis: Es gibt Geschichte. Es gibt den Menschen.“ (Hünermann 403)
Nicht in der Reduktion dieser Unselbstverständlichkeit auf einen doch wieder erklärenden Grund, sondern als Freigabe an sie selbst geht sie auf als die „Offenbarung des Heiligen“ (Hünermann 403–405), und gerade deshalb bleibt dem Denken hier nichts mehr als der schlechthin unselbstverständliche Umschlag in die direkte Rede der Rühmung, die Hünermann an dieser Stelle widerfährt (404) und die sich – unbeschadet des weiterlaufenden Charakters der methodisch durchgeklärten Besinnung des Denkens – für die zwanzig restlichen Seiten des Buches durchhält, auf welchen sich das als Wesen der Geschichte und des Menschen als Zeugen der Geschichte Entborgene übersetzt zum Ansatz neuen Verstehens von Heilsoffenbarung Gottes und Theologie.
Auf dem Boden des soeben Erörterten findet eine zweite Frage fast von selbst die Antwort, welche in den Büchern von Casper und Hünermann darauf der Sache nach enthalten ist: die Frage nach dem Verhältnis solchen „neuen“ Denkens, das Philosophie gerade nicht mehr darin aufgehen läßt, Wissenschaft zu sein, zur wissenschaftlichen Forschung. Die Antwort, sagten wir, ist in den besprochenen Büchern enthalten; denn indem sie auf die Weise dieses neuen Denkens sich den Zeugnissen seines Aufbruchs zuwenden, werden sie forscherisch fruchtbar, im Aufspüren und Ordnen und Werten von „Material“ und in der Erschließung seiner Aussage. Das Denken, das nicht mehr alles „bewältigen“ und „einstellen“ kann, ist gerade offen für die konkreten Zeugnisse und um sie besorgt. Allerdings übersteigt diese Sorgfalt die Sicherung der Feststellbarkeit und sieht das in ihr je und notwendig Entgehende, die Zeugnisse sind „sie selbst“ nur fürs übersetzende Mitdenken. Doch gerade diese über das bloße Material hinausreichende Achtsamkeit des Mitdenkens bewahrt, was sie übersteigt, und eröffnet in ihm auch neue Feststellbarkeiten, die dem bloßen Feststellenwollen zu entgehen drohten. Zumindest vom Ansatz her verhalten sich im mitdenkenden und übersetzenden Verstehen der Zeugnisse als Zeugnisse produktive Transposition des Gedankens und exakte Rezeption des Materials wie kommunizierende Röhren, denn ohne die Frage nach dem Gemeinten entgeht das Gesagte, das nie unter Absehung von seinem Meinen und vom Gemeintsein durch den Forschenden das Gesagte ist (vgl. auch die Ausführungen zur Methodik der Geisteswissenschaften bei Droysen und Dilthey, auf die wir hier nicht näher eingingen, Hünermann 102–128, 156–161, 169–192, 235–238, 272–275).
Es bleibt noch auf eine letzte Frage einzugehen, die – von der Intention der Autoren und vom Gewicht ihrer Ausarbeitung in deren Büchern her – nicht die letzte ist: die Frage nach der theologischen Bedeutsamkeit des Bedachten. Was Casper in der Zusammenschau seiner Ergebnisse und Hünermann in der Weiterführung des zuletzt Besprochenen hierzu sagen, ist von programmatischer Bedeutung. Es soll an dieser Stelle indessen in wenige Bemerkungen zusammengefaßt werden (vgl. Casper 365–379, Hünermann 403–426).
Gerade das Wegrücken des Denkens von der metaphysischen Fixierung auf den alles zeitlos erklärenden und in sich selbstverständlichen Grund, die Freigabe des Denkens an die Vielfalt seiner geschichtlichen Weisen, die radikale Zeitlichkeit dieses Denkens erschüttern es zu einer unversehenen und neuen Offenheit seiner selbst aufs heilige Geheimnis und auf den duhaften Anspruch des sich offenbarenden Gottes zu. Offenbarung kann so in ihrer Unverrechenbarkeit mit dem Ausdenken und in ihrem aus sich selbst aufbrechenden Ereignischarakter radikal ernst genommen werden, ohne daß sie doch beziehungslos neben das Denken geriete. Vielmehr ist das zeitliche und partnerische, geschichtliche und dialogische Denken an sich selbst Freigabe ins Unselbstverständliche unausdenkbarer Gewähr, die so aber nicht die seiende Konkurrenz der endlichen Seiendheiten ist, sondern als das alles, was ist, an sich selbst Gewährende und Freigebende aufgeht. Indem es „nichts anderes“ gibt als die Geschichte und den Menschen, gibt sich das heilige Geheimnis, gibt der heilige Gott sich kund.
[389] Freilich enträt seine Offenbarung der Eshaftigkeit und bloßen Satzhaftigkeit überschaubaren Inbegriffs zeitloser Wahrheiten, die geschichtliche Offenheit ist wesenhaft Offenheit für die vielen Zeugnisse. Recht verstanden, ist sie so aber gerade auch offen für den Einen Zeugen, in dem die „Fülle der Zeiten“ als das Woraufhin aller Zeugnisse angesagt und in dessen Tod und Erweckung sie hereingeholt ist in die Geschichte. In der Geschichte – und das heißt: in der Gemeinde der ihr Glaubenden und in ihr sich Liebenden – ist sie nicht tötende Konkurrenz, sondern heimholende Einlösung aller Zeugnisse, und ihre eigene Endgültigkeit ist innerhalb der Geschichte die Endgültigkeit der je neu der Übersetzung in alle Sprachen und Welten fähigen und bedürftigen Ansage der reinen Zukunft, des kommenden Reiches Gottes als der totalen und universalen Kommunikation aller Menschentümer und aller Sprachen in der Gnadengabe der Neuen Sprache allumgreifenden Verstehens und Rühmens.
So beunruhigt das „neue Denken“ des Gesprächs und der Geschichtlichkeit die Theologie in die Freigabe an die Zeit, an die vielen Menschentümer und ihre Zeugnisse, an die unablösbare Zeitlichkeit der ihr selbst zugeeigneten Offenbarung hinein; diese Beunruhigung gibt sie aber frei für eine neue und unverstellte Treue zu ihrem Ursprung und für den Dienst am universalen Gespräch der Geschichte und der Menschheit.