Das Neue ist älter
Omne ens est marianum
Wir haben das Sein und das Seiende aus der Ursprünglichkeit der Liebe zu lesen versucht und sind dabei auf die vier Notae der Kirche als der einen, heiligen, katholischen und apostolischen gestoßen. Sie wurden uns zu einer Art neuer Transzendentalien des Seinsverstehens. Wagen wir es, eine fünfte Nota Ecclesiae, eine fünfte Wesensbestimmung von Kirche hinzuzufügen, die zugleich transzendentale Auslegung und Sinnbestimmung des Seins darstellt: Omne ens est marianum.
Einrede gegen diese Aussage zu erheben, liegt nahe. Daß Kirche nicht nur apostolisch, sondern marianisch zu lesen ist, daß sie umfangen ist von dem verdankenden, empfangenden Ja, dessen Reinheit und Positivität das Negativ ist, in welchem sich Gottes Fülle in diese Welt hinein abbildet, mitteilt und gebiert, ist zwar plausibel. Aber transzendentale Bestimmungen sind doch solche, die – wenn auch über den Abgrund der Seinsanalogie hinweg – zugleich vom ungeschaffenen Sein Gottes wie vom geschaffenen Sein gelten. Dies gerade zeichnet sie aus, daß sie auch dort noch etwas sagen, wo die Kategorien nicht mehr greifen. Wie kann dann das Marianische transzendentale Bestimmung sein? Wir gehen indessen wohl zu schnell über das Dogma des Konzils von Ephesos (431) hinweg: Maria als Theotókos, Maria als Gottesgebärerin. Dies sagt etwas Ungeheuerliches über Gott selber aus: Er ist einer, der geboren werden kann. Er ist einer, der – selbstverständlich nicht im Sinn eines metaphysischen Werdens, sondern in seiner Selbsttranszendenz in die Geschichte hinein – sich hineingeben kann in einen Zusammenhang, in welchem er empfängt, ja sich selbst auf neue Weise empfängt aus dem, was ihm Raum gibt, was ihn aufnimmt, was sich bedingungslos ihm hinhält als reine Gewärtigkeit, reiner Gehorsam. Wenn die zweite göttliche Person Mensch wird, dann ist sie die Person, die dieses Menschenwesen sosehr trägt, daß das Menschliche zu ihrem Prädikat wird – und in Maria reicht diese Prädikation des [92] Menschlichen vom Sohn Gottes hinein in die Eigenbestimmung eines Geschöpfes: Maria Mutter Gottes. Sosehr dies einmalig ist, sosehr ist es zugleich eingelassen in die Kommunikation mit uns. Jeder, der den Willen des Vaters tut, ist Jesus Bruder, Schwester und Mutter (vgl. Mk 3,35). In Maria erst tritt Gott selber ganz in Erscheinung, indem er unser Fleisch annimmt. Die Bereitschaft, die leere und gehorsame Offenheit Mariens ist die Stelle, an welcher die Herrlichkeit Gottes uns aufscheint. Und jeder, der marianisch sich in seine Berufung hineinstellt, wird zur Stätte der Epiphanie. Wo aber die Epiphanie des Gottes, der Liebe ist, geschieht, da wird nicht nur er herrlich, sondern da wird auch die Stätte dieser Erscheinung schön. In der marianischen Unscheinbarkeit gewinnt die Kreatur ihre Schönheit. Das „marianum“ ist die Entsprechung und Erfüllung des Transcendentale „pulchrum“.