Neuer Ansatz in Sicht?

Ost-West-Spannung

Unsere pluralistische und nachpluralistische Gesellschaft ist beileibe nicht das Ganze. Die große Alternative ist der Sozialismus. Er schiebt die Grenzen seiner Macht- und Einflußsphäre immer weiter hinaus. Nicht ohne Grund betrachtet das die westliche Welt mit Sorge, nicht ohne Grund sieht sie die äußeren und inneren Chancen ihrer freiheitlichen Ordnung bedroht. Was – einmal abgesehen von den Mitteln äußerer Macht – gibt den sozialistischen Systemen solche Kraft der Entfaltung und Anziehung? Sie bauen auf eine Idee, die keine bloße Idee bleibt, Theorie und Praxis, Gesellschaft und Individuum, Deutung der Geschichte und konkrete Lebenssituation, Politik und Kultur klaffen nicht auseinander, sie bilden von innen her eine Einheit. Der Mensch ist in einer Ganzheit, das Leben ist in einer Breite angesprochen und angefordert, wie dies Ideologien, Ideale und Programme westlich verstandener Freiheit kaum vermögen.

Ist diese Ohnmacht nur der Preis der Freiheit? Kann die Schwäche hingenommen werden, daß entweder der einzelne oder die Gesellschaft, daß entweder das soziale Engagement oder die Selbst- und Sinnfindung, daß [31] entweder die Ordnung oder die Freiheit, daß entweder die Offenheit des Dialogs oder die Verbindlichkeit der Überzeugung, daß entweder die breite Gemeinsamkeit gesellschaftlichen Handelns oder die Klarheit seiner Ziele und Grundwerte in den Modellen unserer pluralistischen und nachpluralistischen Gesellschaft zu kurz kommen?

Freilich müssen sich umgekehrt die sozialistischen Systeme die fundamentale Anfrage gefallen lassen: Geht ihre Geschlossenheit und Ganzheit nicht auf Kosten des Menschen, der auch für die größte Idee nicht verplant werden darf; dem die Entscheidung über die höchsten Werte und über den letzten Sinn seines Lebens von der Gesellschaft nicht aus der Hand genommen werden darf, der nicht unter dem Druck stehen darf, in allen Dialogen nur den Dialog der Gesellschaft mit sich selbst führen zu müssen; der nicht dafür in Anspruch genommen werden darf, an eine endgültige Vollendung der Welt und der Geschichte glauben und mit allen seinen Kräften nur ihr dienen zu müssen?

Am Ende zeigt sich die Herkunft auch einer sozialistischen Ideologie aus dem Ansatz der Neuzeit. Wir stehen vor dem selben Problem: dem Problem der Freiheit, die in der Einsamkeit mündet – und wenn es die Einsamkeit des Kollektivs Menschheit wäre.