Theologie als Nachfolge

Parallele in der Konstitution der Wissenschaften

In breiterer Variation und doch durchsichtig auf eine einzige Grundstruktur hin werden von Bonaventura auch die Künste – die methodischen Wege menschlichen Wissens und Hervorbringens – durch drei entsprechende Dimensionen konstituiert.1 Am Text läßt sich der theologisch gewonnene Dreischritt von Genesis, Norm (als Nomos = Gesetzmäßigkeit und Methodos = Weg der Entsprechung) und Synthesis auf drei verschiedene Ebenen der Wissenschaft hin lesen – Bonaventura wechselt zwischen diesen Ebenen und hebt sie nicht eigens voneinander ab; wir dürfen kondensierend und transponierend sie aus seinen Analysen herausschälen. Die Ebenen sind: Konstitution der Sache – Konstitution des wissenschaftlichen Erkennens – Konstitution des Bezugs zwischen der Wissenschaft und dem Ganzen menschlichen Daseins. Auch das Ineinanderspielen dieser Ebenen ist von Belang für eine integrale Wissenschaftslehre in der Konsequenz Bonaventuras, da die Beschränkung auf nur eine dieser Ebenen oder die Auslassung einer dieser Ebenen Wissenschaft selbst um ihre Integralität brächte.

Konstitution der Sache: Was die Sache einer Wissenschaft zu ihr selber macht, wie in einem von der Wissenschaft beobachteten [122] Sach- oder Lebensbereich die thematisierten Gegenstände zustande kommen, welches die Gangart der hier zu rekonstruierenden Prozesse ist, Genesis also ist die Sache von Wissenschaft in erster Potenz. Die Nomik (innere Gesetzmäßigkeit) eines jeden Sachbereiches ist die zweite Potenz; die Frage lautet: In welchen Zusammenhängen spielen Vorgänge und stehen Gegenstände, nach welchen Regeln gestalten sich die Beziehungen, die zur jeweiligen Sache gehören? Wie verhält sich die Sache zu ihrem Umfeld, zum Gesamt der Sachen? Synthetik schließlich ist die dritte Potenz: Wie kommt es zu Einheits-, Horizont- und Kontextbildungen, Zusammenschlüssen, Verschmelzungen, „Ergebnissen“ im jeweiligen Sachbereich? Konstitution des wissenschaftlichen Erkennens: Genetik, Methodik und Synthetik gehören wiederum zusammen. Genetik meint: die Konstitution der Sache im Erkennen, ihr In-Erscheinung-Treten, der Weg, auf dem sie zum Datum und Positivum wird. Methodik meint: die Gesetzmäßigkeit, nach der es hier zur Erkenntnis kommt, die Anmessung der Erkenntnisweise an den Gegenstand und an die innere Logik der ihm in der jeweiligen Wissenschaft entgegenzubringenden Frageweise. Synthetik meint: die Gewinnung und Fassung des Ergebnisses, die wissenschaftliche Formulierung der mit Hilfe der Methodik aus der Genetik gewonnenen Konsequenz. Es sei vermerkt, daß Genese, Nomik und Synthetik der Sache von Wissenschaft auch jeden einzelnen der drei Schritte in der Konstitution von Wissenschaft bestimmen. Konstitution des Außenbezugs der Wissenschaft: Der genetische Schritt ist hier die Genese der Wissenschaft selbst, ihre Fassung in eine kommunikable Gestalt, in ein verstehbares Ergebnis. Der nomische Schritt geschieht in der Frage an die jeweilige Wissenschaft und ihre Ergebnisse, was sie praktisch bedeuten, wie sie praktisch umgesetzt werden können, wie ihnen praktisch Rechnung getragen werden muß. Der synthetische Schritt ist die Einbringung der Wissenschaft ins Gesamt menschlichen Lebens, die Bewältigung von Steigerung und Gefährdung, die der Fortschritt von Wissenschaft je in sich birgt, die Orientierung der Wissen- [123] schaft selbst im Rückstoß auf jene Ziele und Werte, die sie als menschliche im Gesamt des Menschlichen gewährleisten. Was soll indessen – einmal formal betrachtet, sozusagen im Kontext von Wissenschaftstheorie – die Parallelisierung zwischen den Dimensionen der Theologie und den Schritten der Wissenschaft in der Konstitution ihrer Sache, ihres Erkennens und ihres Außenbezugs? Die Antwort sei hier erst angedeutet: Bonaventura stellt den Kontakt zwischen Wissenschaft und Theologie nicht auf die Weise her, daß er aus einer Analyse der Wissenschaft Konsequenzen für die Theologie oder aus einer Analyse der Theologie Konsequenzen für die Wissenschaft schlußfolgernd ermittelt oder daß er aus einem Gesamtaufriß von Theologie Ansätze, Methoden und Differenzen der einzelnen Wissenschaften herleitet; vielmehr entfaltet er zunächst – dies konnten wir in unserem Zusammenhang überspringen – aus den vier Richtungen des Lichtes, das uns erleuchtet und in dem wir alles sehen,2 die verschiedenen Künste, also Erkenntnis- und Produktionsweisen. Dabei gewinnt er abschließend, als die Explikation des „oberen Lichtes“, die bereits dargestellte dreifache Struktur von Theologie als Lehre vom allegorischen, moralischen und anagogischen Schriftsinn. Die Intuition dieser Struktur von Theologie ist zugleich Intuition ihres möglichen Modellcharakters für die zuvor erörterten „Künste“. Die Momente von Genetik (allegorischer Schriftsinn), Nomik bzw. Methodik (moralischer Schriftsinn) und Synthetik (anagogischer Schriftsinn) werden zum Deuteangebot für Struktur und Aufgabe der „Künste“. Derselbe Blick Bonaventuras erreicht so die Grundstruktur der Theologie von ihrer Sache her und den Rhythmus menschlicher Produktions- und Erkenntnisvollzüge. Es gelingt ihm, diesen Rhythmus auf die theologische Struktur hin zu lesen und so die Struktur der „Künste“ ihrerseits sichtbar zu machen. Der Erkenntnisvorgang hat die drei Schritte: theologische Grundintuition – Anvisieren des phänomenalen Befundes im Bereich der „Künste“ – Synthese im theologisch gewonnenen Modell, das die Phänomenalität der „Künste“ integriert, aber nicht subsumiert, das sich somit als „zweiursprünglich“, aus dem Eigenen der Künste und dem der Theologie zugleich, bewährt.


  1. Vgl. De reductione 8–25. ↩︎

  2. Vgl. De reductione 1; Ausfaltung in 2–6. ↩︎