Wahrheit und Liebe – ein perichoretisches Verhältnis
Perichorese – was ist das?
Es tut in unserem Kontext nicht not, die Lehre von der Perichorese, ihre trinitarische und christologische Anwendung, ihre begriffsgeschichtliche Entwicklung, ihre unterschiedlichen Schwerpunkte in griechischem und lateinischem Denken zu entfalten. Michael Schmaus beschliesst seinen geschichtlich und theologisch prägnanten Artikel im LThK1 mit dem Satz „In systematischer Hinsicht kann man in der Lehre der Perichorese die kürzeste Formel für die Einheit und Verschiedenheit sowohl im trinitarischen als auch im christologischen Bereich dargestellt sehen“.
Es geht hier darum, die Bedeutung des Motivs „Perichorese“ über seine klassische Anwendung auf Trinitätslehre und Christologie hinaus für theologische und philosophische Erkenntnis überhaupt fruchtbar zu machen.
Perichorese meint jenes gegenseitige Sich-Umfassen und Sich-Treusein von Polen, in denen Einheit, Gleichheit und Unterscheidung zugleich auf dynamische und beziehentliche Weise in ihrem Zusammenhang sichtbar werden.
Es ist schon in einem ersten Hinblick offenkundig: Wo Liebe im Spiel ist, wo Liebe konstitutiv ist für Wahrheit, da geschieht Mitteilung des Eigenen ins Andere und Hineinnahme des Anderen ins Eigene, da können Beziehung, Wirken, Erkennen nur je perichoretisch gefasst werden. Die Pole der Beziehung, der Wirklichkeit, der Erkenntnis liegen nicht ausser einander, sondern jeder der Pole ist auf je andere Weise, in sich selbst bestimmt vom je anderen, jeder trägt den anderen und somit auf gewisse Weise das Ganze in sich. Die Unterschiede sind dann nicht so sehr jene von Teilen, die sich nur äusserlich berühren, oder Ganzheiten, die nur zusätzlich zu ihrem Sein akzidentielle Beziehungen aufnehmen, sondern die Unterschiede bestehen gerade darin, wie das Unterschiedene unterschiedlich das je andere und das Gemeinsame in sich trägt und ausprägt. Nicht durchschaute oder vollzogene oder aber nicht gemäss durchschaute oder vollzogene Perichorese sind dann der Grund für Missverhältnisse und Missverständnisse, für Fehler oder Fehlinterpretationen. Der Rekurs auf die je vollständige und je den Sachverhalten und ihrem Bezug entsprechende Perichorese zeichnet einen Weg dialogischer Klärung, aber auch gemässer Komplementarität unterschiedlicher Denkansätze und Sichtweisen an. Im folgenden sollen nun einige phänomenologische Hinweise darauf gegeben werden, wie Wahrheit und Liebe je in sich selbst und in ihrem gegenseitigen Verhältnis „perichoretisch“ zu verstehen sind.
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Vgl. M. Schmaus, Art. Perichorese. In: LThK², 274-276. ↩︎