Der Begriff des Heils

Persönliches Heil?

Einerseits lebt unsere Zeit vom Pathos der Freiheit, der Unantastbarkeit des je Meinen; anderseits zerrinnt dem Menschen seine Identität mit sich. Dieses Zerrinnen läuft gar in zweifacher Richtung: Einmal ist Person als Totalität „zuviel“ für mich. Ich bin jetzt, bin hier, bin in dieser Erfahrung, dieser Funktion, diesem begrenzten lichten Punkt innerhalb des dunklen und grenzenlos zerfließenden Geflechts von Bezügen. Ich bin nur jeweils, nur punktuell da. Addition der vielen Punkte gelingt nicht, scheint Willkür, Krampf, Ideologie. Viele Situationen zu übergreifen, sie zu bündeln zur Person oder gar zur Persönlichkeit, verdirbt nur das Jetzt. Zum andern aber wäre nur „mein“ Ich zuwenig. Das Zentrum dessen, woran ich beteiligt bin, ist gar nicht dieses Ich, sofern ich auf es reflektiere und es fixiere; vielmehr ist dieses Ich nur die Stelle der Sensibilität für den Strom einer weitertragenden und weiterweisenden Dynamik, in der sich die Figuren von Welt und Gesellschaft bilden, welche erst in einer je entzogenen und doch je ziehenden Zukunft den Punkt ihrer Identität finden.

„Persönliches“ Heil, Heil das mich mich sein läßt, scheint gar nicht mein Heil sein zu können; denn das Ich und das Mein sind zugleich viel zu groß und viel zu klein dafür, daß jenes „Ja, es ist gut!“ auf sie zuträfe, das mit dem Wort Heil doch nur gemeint sein kann. Auch im allgemeinen Bewußtsein geht das Interesse am persönlichen Heil unter, wie beispielsweise die Umfrage unter allen Katholiken in der Bundesrepublik Deutschland und eine sie begleitende repräsentative Umfrage im Jahr 1970 bestätigen können.

„Ich“ bin zwar an mir interessiert, bin eifrig darauf bedacht, mir nicht durch Begrenzungen und Bevormundungen entzogen zu werden; doch dieses „Ich“, an dem ich interessiert bin, siedelt sich nicht in jener Größenordnung an, die mit dem Ausdruck „persönliches Heil“ gemeint ist. Mit mir ist es nur gut, wenn es im ganzen gut ist, und zugleich ist es mit mir nur gut, wenn es mit mir jeweils gut ist – jeweils: will sagen in dieser Sache, in diesem Augenblick. Zwar gibt es die Sorge der „Versicherung“ gegen künftige Unvorhersehbarkeiten; aber nicht das „Ich“, sondern das Auftauchen vergleichbarer [214] Situationen im diffusen und disparaten Strom über mich hinaus und von mir weg soll möglichst so gesteuert werden, daß die Startbasis für meine jeweilig neu vom Nullpunkt aus zu entwerfende Identität des Augenblicks mit mir gesichert ist.

Person erscheint als Ideologie. Ist dies der pure Zerfall des Menschen, oder ist es ein Hinweis darauf, daß Person nicht „ist“, sondern daß Person den Menschen gibt – und gibt heißt: über sich hinaus gibt? Vielleicht haben wir das „Eigentliche“ des Menschen im Niemandsland zwischen dem Augenblick, der jetzt ist, und der Welt und den Mitmenschen, die über ihn hinaus sind, postiert und darum beides vom Menschen abgeschnitten. Wir fragten weniger danach, wie dieser Mensch wirklich hier und jetzt sein, leben könne, sondern fixierten ihn auf sein grundsätzliches, allgemeines Image, das nur immer, aber nie jetzt gilt. Zum andern subtrahierten wir seine „Persönlichkeit“ von seinen Beziehungen, in denen sein Dasein sich begibt und ereignet, in denen es Welt gestaltet und sich selbst entfaltet: Beziehung als ein an die Substanz angehängtes Akzidens. Wenn aber Person dies meint: die geschehende Beziehung, die das Jetzt weggibt an die anderen, an die Welt, und die das andere und die anderen hineinnimmt in das Ereignis des Augenblicks, wenn sie die Zeitigung der Welt in den Menschen und des Menschen in die Welt ist, dann „ist“ sie zwar nicht; denn sie ist Bewegung und Beziehung – und doch kommt alles auf sie an, darauf, daß solche Zeitigung gelinge. Der trinitarische Personbegriff der „relatio subsistens“ wird anthropologisch relevant.

Dann aber haben wir genau wieder den Punkt erreicht, auf den wir am Ende der Reflexion auf das „übernatürliche“ Heil gestoßen sind. Person selbst ist nichts neben dem Augenblick und der Welt, sondern ihr Kontext, ihre Gleichzeitigkeit, die beide einander und so gerade in sich selbst gewährt. Alles kommt dann aber darauf an, daß der Person gewährt sei, dieser gewährende Kontext zu sein, daß es ihr vergönnt sei, die beide einander gönnende Gunst zu sein. Solche Gunst muß je neu geschehen, sie „ist“ meine Freiheit und Ursprünglichkeit. Indem sie aber auf die Spitze ihrer selbst gestellt ist, steht es nicht ganz günstig um sie. Erst wenn meine Freiheit es wagen darf, das Gestelltsein auf die eigene Spitze als Gunst dafür zu gewahren, daß die Zeitigung des Augenblicks in die Welt und der Welt in den Augenblick gelinge, ist sie zu sich selber frei. Der Mensch muß es als Gunst erfahren dürfen, jene Gunst zu sein, die den Augenblick und die Welt einander gönnt. So aber ist, in einem fundamentalen Sinn, Person „gerettet“ – also doch: persönliches Heil.