Eine Phänomenologie des Glaubens – Erbe und Auftrag von Bernhard Welte

Phänomenologie der Umkehr: Phänomenologie des Glaubens

[116] Skizzieren wir nun einen Gedanken, der scheinbar mit dem Vorausgehenden nicht in unmittelbarer Beziehung steht. Fragen wir uns, was dem Menschen widerfährt, wenn er sich auf das Wort Jesu einläßt, und nehmen wir dabei die Blickrichtung vom Wort des Evangeliums her. Wie wir versuchten, phänomenologisch die Momente aufzuzeichnen, die dem Denken dessen sich eintrugen, der Bernhard Weltes phänomenologischen Denkweg mitging, so versuchen wir jetzt, die Momente festzuhalten, die in der Betroffenheit durch das Evangelium beim in den Glauben Umkehrenden sich abzeichnen. Eine andere Umkehr, gewiß, als jene, die wir im ersten Teil als den Denkweg dessen beschrieben, der von der Sache her, von ihrem Aufgang her, auf sie zu denkt und nicht mehr von sich und dem her, was er mitbringt an Vorurteilen und Ordnungsschemata. Und doch, im eminenten Sinn, Umkehr. Wo zwischen der ersten und der zweiten Umkehr Entsprechung und Gemeinsamkeit liegen, wird sich am Ende dieses kurzen, in seiner Struktur mehr notierten als ausgeführten Ganges zeigen.

Bleiben wir einen Augenblick beim Wort: Umkehr. In der Tat, Umkehr ist von der Predigt Jesu und vom Vollzug der Nachfolge her die Grundbewegung des Glaubens. Die Zusammenfassung der Verkündigung Jesu in Mk 1,15 macht es deutlich: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Umkehr und Glaube legen einander gegenseitig aus, umfassen einander gegenseitig. Aber worin besteht diese Umkehr? Nicht nur in einer bessernden Veränderung der Lebensverhältnisse, die bislang nicht so ganz konsequent ausgerichtet waren an dem Gott, an den man bereits glaubte, vielmehr in jener „Kehrtwendung“, deren Ursprung in Gott selber liegt.

Dieser Gott rückt von der Peripherie, vom Jenseits des äußersten Horizontes des Lebens und der Welt in deren Mitte. Sein Reich, seine Herrschaft kommen nahe. Er scheint nicht mehr auf als das ferne Geheimnis, das in allem und über allem winkt, sondern als dieses Geheimnis drängt er in die Unmittelbarkeit unseres Umgangs mit der Wirklichkeit, der Beziehungen, welche Menschen miteinander und mit den Dingen und Angelegenheiten dieser Welt verbinden. Die Umkehr auch der [117] phänomenologischen Umkehr in der Umkehr des Glaubens deutet sich an.

In dieser Umkehr des Glaubens geht alles von Gott, von seinem Ruf, von seinem Handeln, von seinem Wort aus. Eine Phänomenologie dieser Umkehr kann gar nichts anderes sein, als die Phänomenologie des Wortes, der Botschaft selber, freilich dieser Botschaft so, daß sie als bestimmende und wirkende Macht im Dasein des Glaubenden aufgeht. Es geht um Phänomenologie des Wortes in seinem Wirken, in seiner verändernden, umkehrenden Mächtigkeit, die es, an den Menschen ergehend, gewinnt.

Welches nun sind die Stationen solcher Umkehr und somit die Stationen des Wortes der Botschaft Gottes selbst? Eine andeutende Skizze muß hier genügen.

Erster Schritt: Das Wort ist neu. Das erste Wort, das im Markusevangelium Menschen über das Wort Jesu sagen, lautet: „Eine neue Lehre in Vollmacht!“ (Mk 1,27) Neuheit (kainós) ist jene Grundqualität der Botschaft Jesu, die nicht zuerst einen Unterschied zur Botschaft der Offenbarung Gottes an Israel meint, sondern eine neue Situation, eine neue Unmittelbarkeit, eine neue Möglichkeit kennzeichnet. Endgültigkeit und Erstmaligkeit vermählen sich in diesem Charakter. Das Wort Jesu macht aufhorchen, es rückt die Nähe Gottes in den Blick, seine Größe, seinen Anspruch, und setzt so das Ganze von Welt, Geschichte und Leben in ein neues Licht. Dieses Wort hat von sich her die Hinweisgebärde des „Ecce“, des „Siehe“ in sich. Wo dieses Wort ergeht und nicht verstellt und verschleiert wird, so daß es gar nicht „ankommt“, da eröffnet es neue Sicht, da geht es an, da hat es einen kreativen Rufcharakter. „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ (Joh 6,68) Dieses Petruswort gibt sozusagen im Negativ das wieder, was mit dem Wort „Neuheit“ markiert wird. Ein neues Wort – ein neues Leben bietet sich an, lädt ein.

Zweiter Schritt: Krisis. Dieses neue Wort aber ist kein Sonderangebot, an dem man auch vorbeigehen kann, und man hätte nichts anderes verpaßt als einen billigeren Einkauf. Es ist anspruchsvolles Wort, von dem alles abhängt, es ist Wort, das einen anderen Kairós bezeichnet, Welt und Leben gehen nicht weiter wie bislang, auch wenn dies zunächst dem, der sich abwendet oder vorbeigeht, so scheinen mag. Das neue Wort kettet los von den [118] bisherigen Bindungen und Gewohnheiten, es ist Wort, das zum Verlassen, zum Aufbrechen, zum Weggeben bisheriger Sicherheiten lädt. Nachfolge ist radikaler Abschied – nur so ist Umkehr möglich, nur so wird das Wort wirksam. Alle Worte des Evangeliums sind im Grunde kritische Worte, Worte, die den Schnitt, das Verlieren, das Aufgeben um des Einen, Neuen, Ganzen willen, fordern und wirken.

Dritter Schritt: Charis, Evangelium. Mit der Krisis ist die Charis, mit dem Gericht die Gnade, mit der radikalen Forderung das unermeßliche Geschenk, die große Verheißung verbunden. Neue Freiheit, Leben in Fülle, Leben aus Gott, das ist nicht wie ein äußerer Lohn für eine zuvor zu erbringende Leistung, sondern es ist als die neue Wirklichkeit geschenkt und zugesagt, die allerdings der Leere, der Offenheit, des freien Ja bedarf, um ihr eigenes, vorgängiges und unabhängiges Ja entfalten und bewähren zu können. Wie jedes Wort des Evangeliums Krisis ist, so ist auch jedes Charis, Gnade, Geschenk, Zusage.

Überblicken wir den zurückgelegten Weg: Das Wort ist neu, es läßt aufmerken – es fordert alles, richtet, reißt mich von mir weg – es beschenkt mich, nimmt mich hinein in eine neue Zukunft, die schon jetzt neues Leben, Leben in der Nähe des lebendigen Gottes ist.

Vierter Schritt: Koinonia, Communio. Das Wort ergeht je an mich ganz persönlich, ich kann mich nicht hinter ein „Man“, hinter eine Allgemeinheit verstecken, ich bin auf die Spitze meiner selbst gestellt. Aber als ich selbst, mich öffnend dem Wort, bin ich nicht zusätzlich zu dieser Öffnung, sondern unmittelbar in ihr hineingestellt in neue Gemeinschaft, in neuen Zusammenhang, in jenes Und, welches gleichursprünglich Gott und Mensch wie Mensch und Mensch in Gottes Wort vereint und versammelt. Als der von mir Freie, in Gottes Zusage Hineingehende, erfahre ich Offenheit zwischen mir und den andern. Meine Zugehörigkeit zu dem sich mir zuwendenden Gott ist Zugehörigkeit zu seiner universalen Zuwendung, ist Zugehörigkeit mit denen, welchen diese eine, einzige Gebärde seiner Zuwendung gehört.

Fünfter Schritt: Neue Schöpfung, neuer Äon. Die Zugehörigkeit zueinander im neuen Wort ist Zugehörigkeit zur neuen Zukunft, zum neuen Äon, den die Wirkkraft dieses Wortes ansagt und heraufführt. Alles ist neu, alles ist da, indem nur noch der Eine da ist: der nahe, der sich zuwendende Gott. Alles [119] verlassen, das heißt aufbrechen auf die Neue Welt, auf den neuen Himmel und die neue Erde zu – die schon jetzt im „Hundertfältigen“ (vgl. Mk 10,30), im „Dazugegebenen“ (vgl. Mt 6,33) hereinwinken und hereinwirken in unsere alte Welt.

Sechster Schritt: Neue Wahrheit – Einheit von Nachfolge und Botschaft. Dem Wort folgend, haben wir die Bewegung der Umkehr, der Nachfolge, des Glaubens beschrieben. Betroffenheit vom Neuen, vom Siehe – Bereitschaft, zu lassen und aufzubrechen – Glauben an die Botschaft, Beschenktwerden mit der neuen Wirklichkeit – Gemeinschaft aus dem neuen Wort im neuen Leben – Hoffnung und Erfahrung der neuen Zeit und der neuen Welt.

Was aber dieses Wort so bewirkt, ist nichts anderes als das, was es sagt: Gott wendet sich zu, Gott hält Gericht, Gott schenkt sich ganz, Gott stiftet die Einheit, Gott verwandelt und vollendet die Welt. Doch beide Reihen laufen nicht nebeneinander her, als sozusagen imperativische und indikativische, es gibt nicht hier die Subjektivität des Lebens und dort die Objektivität des Inhalts der Botschaft. Keines ist durch das andere zu ersetzen, aber jedes ist je im andern enthalten. Und beides verbindet sich im Einen, im Ereignis, das da verkündet wird, indem die Botschaft vom nahe herangekommenen Gottesreich verkündet wird. Die Botschaft Jesu und die Nachfolge Jesu sind eins in der Botschaft von Jesus. Daß Jesus die ganze Wirklichkeit der Welt auf sich nimmt, daß er Schuld und Tod und Grenze des Menschen in sich ausleidet und sterbend hineingibt in den Vater, der ihn und in ihm uns auferweckt: das Paschageheimnis ist nichts anderes als die Gewähr Gottes, in welcher er sich selber und so seine Herrschaft und sein Reich schenkt, und es ist zugleich unser Weg der Stationen, die wir beschrieben haben: Ecce homo, Ecce Deus – Krisis – Charis – neue Gemeinschaft – neues Leben und neue Welt.

Doch genauso ist, dieses österliche Geheimnis tragend, zusprechend und uns zuwendend, dieser Weg auch der Weg der Inkarnation. Die Botschaft und in ihr Gott selbst, sein Wort, treffen die Jungfrau – sie verläßt sich und öffnet sich – das Wort, der Sohn Gottes, wird in ihr Fleisch, geht von Gott in unsere Welt hinein und geht in ihr aus unserer Welt hervor – er wird Glied der Menschheit, neuer Adam, stiftet die neue Gemeinschaft – in ihm werden Welt und Leben anders und neu, [120] die Zeit wendet sich. Wiederum: Botschaft und Leben als zweieine Gegenwart der Zuwendung Gottes. Und schließlich zuletzt, zuerst und zuinnerst: Geschichte zwischen dem Vater und dem Sohn im Geist. Das „Ecce“, das „Adsum“ des Sohnes (vgl. Hebr 10,5-9) – die Kenose, die Entäußerung des Sohnes (vgl. Phil 2,6-8) – die Erhöhung und Einsetzung des Sohnes (vgl. Phil 2,9-11; Röm 1,4) – der Auferstandene als der Erstgeborene unter vielen Brüdern (vgl. Röm 8,29) – der Angelpunkt und der Anfang der neuen zum Vater im Geiste heimgebrachten Welt (vgl. Eph 1,10): Dreifaltiges Leben, das sich öffnet und uns mit einbezieht, als Botschaft und Vollzug.

Die Struktur der Nachfolge ist zugleich die Struktur der Botschaft, und dieses Zugleich ist die Struktur von beiden, die eine Struktur des sich eröffnenden und mitteilenden Gottesreiches. Paschageheimnis, Inkarnation, Trinität sind die unverfügbaren, unablöslichen und unauflöslichen Gestalten, in denen sich die Botschaft Jesu als die Botschaft von Jesus hineinspricht und hineingibt in unser Leben, in unser Glauben, um so in unserer Umkehr die Zukehr Gottes zu uns, die Zukehr, die Gott selber ist, zu bewähren.

Siebter Schritt: Zeugnis als Lebensgestalt und Weltgestalt. Die Gestalt – Paschageschehen, Inkarnation, Trinität – ist endgültig. Diese Gestalt ist jeweils, recht verstanden, Geschichte, die im ereignishaften Siehe, im Nein der Weggabe, im Ja des Schenkens und Beschenktseins, in den Dimensionen der Kirche und der Welt, der Communio und des Universums ihre Momente hat. Aber gerade darum ist die Endgültigkeit solcher Gestalt und Geschichte daraufhin angelegt, selber Gestalt und Geschichte zu werden: Die Glaubenden sind, nicht zusätzlich zu ihrem Glauben, sondern im Vollzug dieses Glaubens, hineingestellt ins Zeugnis, in die Sendung. Ihr Leben und ihr Wort, geprägt von der Umkehr des Glaubens, geben die Botschaft weiter, stellen sie dar, machen sie sichtbar und gegenwärtig für die anderen, fürs Ganze – und so ist auch schon die vergängliche Gestalt dieser Welt dazu bestimmt, zum Zeichen und Anfang der kommenden Welt zu werden.