Das Kleid als Spur Gottes
Phänomenologie des Kleides*
Nicht weniger belegend als das Ereignis auf dem Aachener Katschhof waren und – so muß ich im Hinblick auf immer noch [204] eintreffende Antworten sagen – sind die Wege der Spurensuche nach Jesus, auf welche sich viele Kinder nach diesem Brief begeben haben (vgl. Erich Strick, Hrsg., Wo finde ich Jesus?, München-Zürich-Wien 1981).
Ich möchte nun versuchen, das zur Sprache zu bringen, was in diesem Kontext das als Heiligtum verehrte Gewand Mariens und was von hier aus Gewand überhaupt Spur von Gott her und Spur zu Gott hin sein läßt.
Vorab sei bemerkt, daß der Akzent bei jenem Kindergottesdienst wie überhaupt bei der Heiligtumsfahrt nicht auf der Aussage lag: Dieses Kleid hat Maria in der Heiligen Nacht getragen, sondern: Ein solches Kleid hat Maria getragen. Die schlichte, herbe, elementare, arme und doch in ihrer Gestalt überzeugende Realität Kleid stand im Mittelpunkt, Kleid als solches, Kleid der Mutter als der erste bergende Raum des Herrn, der in unsere Mitte kommt, trat hervor.
Die zur Deutung und Weiterführung erzählte Geschichte erscheint zunächst nicht als unmittelbare Fortsetzung dieses Motivs. Vordergründig lenkt sie eher ab in die andere Motivwelt der Armut dessen, der mit den Geringen und als ein Geringer leben und in den Geringen uns begegnen will. Verborgen ist dennoch Kontinuität gewahrt, und zwar nicht nur durch das Motiv der Erniedrigung, sondern durch eine nicht ins einzelne entfaltete, aber unmittelbar wirksame „Phänomenologie“ des Kleides.
Das Staunenmachende beim Zeigen des „Kleides Mariens“: Es ist ein ganz anderes Kleid als jene Kleider, die wir tragen, aber es ist wirklich ein Kleid; es ist ganz anders als jene Kleider, die in berühmten Darstellungen Mariens uns begegnen – viel schlichter, ganz einfach.
In diesen Beobachtungen, die spontan miteinander im Zugleich von Staunen und Jubel sich verflochten, sind vier Momente der phänomenalen Struktur von Kleid präsent.
Erstes Moment: Kleid fügt sich ein in den Lebens- und Kommunikationszusammenhang Menschheit, Gesellschaft. Wer „gekleidet“ ist, gehört hinein in eine Welt, in der man miteinander Fühlung hat, aufeinander zugeht, zueinander „spricht“, auch wenn man nichts sagt, an deren Regeln man sich hält, in der man Jemand für jeden anderen Jemand ist. Daß dies zum Kleid [205] als solchem konstitutiv gehört, wird gerade daran sichtbar, daß Abweichungen vom Stil und Kontext einer Gesellschaft, Hervorhebung innerhalb der Gesellschaft wie Ausstieg aus ihr, sich in der Art der Kleidung auszudrücken pflegt. So lange es her ist, so anders die Welt war, Jesus hatte unter dem Kleid der Mutter seinen Ort, und dieses Kleid sagt: Er gehört zu uns, ist einer von uns.
Zweites Moment: Kleid ist etwas wie bergende Schale, die ihren Gehalt enthält und schützt. Maria und Jesus: In solchem Kleid war sie – in solchem Kleid war er! Kleid als Indikator der Gegenwart, der Realität.
Damit aber ist unmittelbar ein drittes Moment verbunden: Verbergung. Das Bergende ist zugleich das Verbergende, jenes Hüten eines Geheimnisses, das nicht profaniert, nicht unmittelbar ausgeliefert werden soll. Das „Mehr“, die Innerlichkeit, die sich nur von sich selber her und nicht „automatisch“, sofort und allgemein preisgeben will, dies kommt im Kleid zum Ausdruck. Der Sohn Gottes, der Große, Herrliche verbirgt sich, sein Geheimnis ist da, aber wir können es nicht zupackend bemächtigen, sondern nur in Ehrfurcht und Behutsamkeit ihm nahen.
Schier dialektisch mit diesem dritten ist nochmals ein viertes Moment verbunden: Kennzeichen, Zeigen, Verherrlichen. Was gehütet und verborgen wird, das zeigt in solcher Hut und Verbergung sich zugleich, weckt Aufmerksamkeit auf sich in der Art, wie es sich im Kleide präsentiert. Kleidung ist eine Weise, sich zur Erscheinung zu bringen, und zwar so, wie ich es will, wie ich selber erscheinen soll. Dieser „splendor“, dieser Aufgang des großen Herrn in seiner Niedrigkeit wird durch das demütige Kleid der Mutter offenbar. Mehr noch: er zeigt, wie er unter uns offenbar werden will, wie er unter uns sein will – als jener, der sich erniedrigt, der klein wird, der ist, wie wir sind.
Zugehören, geborgen sein, verborgen sein, offenbar sein – dies ist der Schnitt- und das Webmuster menschlichen Gewandes, menschlichen Kleides überhaupt. Menschwerdung; was sie ist und bedeutet, läßt sich dann buchstabieren am Kleid. Das Kleid der Mutter, welches das Kind in ihrem Schoße birgt, wird so zugleich zum Weg, der uns zeigt, wie unser eigenes Menschsein Spur Gottes ist, wenn es zu jenem Selbstverständnis bewußt und ausdrücklich findet, das sich im Kleid ausdrückt. Ja zur Ge- [206] meinschaft, Geborgensein, Diskretion und Tiefe, die sich nicht preisgibt, aber eröffnet, so aber Erstrahlen der eigenen Würde und ihre Mitteilung – im Kleid läßt sich Menschsein erlernen und geht in der Größe des Menschseins etwas auf von jener Gottesbildlichkeit, die den Menschen in sich selber sich übersteigen läßt zum lebendigen Gott hin.
In dieser phänomenalen Struktur des Kleides aber ist auch der Weg eröffnet, den die – ich betonte es schon – nur scheinbar ganz andere Geschichte der Kinderpredigt auf dem Katschhof führt. Gerade das dritte und vierte Moment dieser Struktur des Gewandes – die beiden ersten sind darin impliziert – bezeichnen den „springenden Punkt“ der erzählten Geschichte. Welches Kleid ist jenes, in welchem der König erscheinen will? Wo wird von seiner eigenen Absicht her er selbst als er selbst am deutlichsten offenbar? Von hier, vom vierten Moment aus geht es über zum ersten Moment: Wie steht der König im Kontext des Ganzen, zu dem er gehört, wie steht er innerhalb der Gesellschaft? Die Spannung dieser beiden Momente bringen jene, die des Königs liebstes Kleid identifizieren sollen, in die kreative Verlegenheit. Die Verbergung, das Sein wie die Geringsten und mit den Geringsten (drittes Moment), wird als solches zur Offenbarung. Hier, in der Niedrigkeit, ist der König wahrhaft, hier hat er seine Präsenz, in diese seine Aussetzung und Erniedrigung „birgt“ er sich – Integration des zweiten Momentes.
In die allgemeine und gewohnte Struktur wird durch die andere Komposition der Momente – es ist im Grunde dieselbe, die der Sohn Gottes in seiner Menschwerdung wählt und die im Kleid Mariens zum Ausdruck kommt – eine Dynamik eingetragen, durch welche eine statische Verfremdung der Kleider- und Gesellschaftsordnung aufgebrochen und der Weg zum immer neu zu entdeckenden, so aber auch immer neu wirksam werdenden Geheimnis der menschwerdenden Liebe erschlossen wird. In der Verborgenheit die Liebe Gottes entdecken, in den Verborgensten die Geliebten Gottes entdecken und so selber hineinkommen in die Bewegung seiner menschwerdenden Liebe, das ist jene Dynamik, auf die Gottes Spur im Kleid uns zu bringen vermag. Pilgerfahrt zum Kleid kann Pilgerfahrt zu Gott, kann Weggenossenschaft mit der Pilgerschaft Gottes zum Menschen werden.