Eine Phänomenologie des Glaubens – Erbe und Auftrag von Bernhard Welte

Phänomenologisches Denken als Umkehr

Was ist die „leitende Erinnerung“ an die Vorlesungen Bernhard Weltes? Wie ist es dabei meinem Denken ergangen? Es fällt mir keine knappere und treffendere Formel ein als die: Ich wurde in eine Umkehr gerufen, in eine Umkehr meiner gewohnten, mitgebrachten Weisen, die Dinge zu sehen und einzuordnen. Diese wurden herausgebrochen aus dem Gefüge einer Verfügbarkeit für Urteil und Gebrauch, sie bekamen das Recht, anders zu sein, zu überraschen, aufzugehen wie zum ersten Mal.

Ihr Eigenstand und ihr Eigensein setzte sich aber nicht nur durch gegen den Zugriff der Alltagsmeinungen und der sie im Grunde übersehenden Sehgewohnheiten, sondern auch gegen eine andere Weise des Umgangs mit ihnen, die bestimmt war von der Wissenschaft: Es genügte nicht mehr, die Dinge zu „erklären“, die Phänomene zurückzuführen auf die Bedingungen der Möglichkeit ihres Zustandekommens. Die Phänomene – blieben. Es wurde deutlich, daß ihr je Eigenes nicht auf- und untergeht in dem Stellenwert, den sie in einer universalen Berechnung, in einem von der Vorherrschaft der Wirkursächlichkeit bestimmten Denken haben.[4] Immer wenn ich mit Bernhard Welte eine Sache zu sehen, ein Phänomen wahrzunehmen versuchte, entdeckte ich: Es gilt, Herkömmliches zu verlassen, um neu einzusetzen. Mit Welte denken hieß, grundsätzlich etwas zum ersten Mal denken. So habe ich es als junger Student erfahren, und im Grunde hat sich diese Erfahrung durchgehalten [105] und erneuert in den späteren Wegen und anderen Ebenen des Denkens mit ihm. Sein Sprechen und Lehren war sozusagen die Anweisung: Denke alles zum ersten Mal, sieh alles zum ersten Mal, sieh es so, daß du nicht dein Sehen siehst, sondern die Sache, und laß dein Sehen ganz und gar die Sache, die Sache ganz und gar dein Sehen werden!

Doch was geschieht positiv in solcher Umkehr des Denkens? Sie läßt sich, im Ausgang von der Erfahrung mit dem Denken Bernhard Weltes und im Vorgang in das von ihm angeregte Mitdenken und Selberdenken, ein wenig schematisierend und vergröbernd, in sieben Schritte fassen.

Erster Schritt: Siehe! So unterschiedlich Zugangsüberlegungen bei Bernhard Welte gestaltet sein konnten, innerlich fing sein Gedanke immer mit der hinweisenden, sehenlassenden Gebärde an: Siehe! Diese Gebärde umschreibt einen dreipoligen Raum, eröffnet ihn und nimmt ihn zurück in ein einfältiges „Da“. Sie geht von dem aus, der bereits sieht und sein Gesehenes sehenlassen will. Sie hat also als sehende Gebärde das Gesehene, aber auch Sehen, anderes Sehen im Blick. Sie weist hin und evoziert. Aber sie tut dieses beide, indem sie sich gerade hineingibt und zurücknimmt ins Gesehene. Sie ist nichts anderes als der Aufgang jenes Siehe, welches das Gesehene von sich selber her „spricht“. Der Ruf „Siehe“ sagte nichts, wenn nicht das, worauf er hinweist, selber dieses selbe spräche: „Siehe!“ Die Gebärde des Siehe weist auf einen Anblick, der selber anblickt und so den Hinblick einfach durch sein Anblicken „ruft“. Der gerufene Hinblick aber, angestoßen durch den Hinweis des Siehe, sähe nichts, wenn dieses Siehe nicht jenes sehen ließe, das von sich her anblickt. Der Hinblick folgt dem Siehe nur, indem er sozusagen dieses hinweisende Siehe vergißt in die Unmittelbarkeit dessen hinein, was sich ihm zeigt. Im Sich-Zeigenden allein hat das Siehe seinen Ort. In ihm, in seinem Anblick aber hat auch der Hinblick selber allein seinen Ort. Er sieht nicht sich, sondern ist aufgesogen und gesammelt in diesem sein eigenes Siehe vollbringenden Anblick, in dem, was von sich her sich zeigt. Die drei Pole des Siehe: Hinweis, Anblick, Hinblick – Sehenlassender, Sache, Sehen falten sich ein ins reine, alleinige Da des Anblicks dessen, was sich da zeigt. Dieser Anfang und Aufgang im Siehe ist bereits das Ganze – und ist doch erst der Anfang. Was in ihm enthalten ist, muß in weiteren Schritten entfaltet werden. Sie sind im ersten Schritt [106] und sind doch Schritte über ihn hinaus. Der erste Schritt aber, der Anfang, ist wahrhaft erster Schritt, wahrhaft Anfang. Die anfängliche Zueignung dessen, was sich zeigt, ans Sehen ist durch nichts anderes zu erstellen, ist ursprüngliches Ereignis und ursprüngliche Stiftung von Beziehung, die durch keinen anderen Bestand und durch keine anderen Voraussetzungen ersetzt oder überholt werden könnten. Mit dem anblickenden Siehe der Sache selbst fängt es an, und auch der Hinweis des auf die Sache zu gesprochenen Siehe ist nichts anderes als bereits Wiederholung und Vermittlung dieses Anfangs.

Zweiter Schritt: Nein, laß! Wer hinblickt, der blickt von sich selber weg. Wer dem Siehe folgt, der muß das lassen, was er sonst noch im Auge hatte oder hätte. Nur der Blick, der sich nicht selber sieht, sieht. Nur wer „dieses und nichts anderes“ sieht, sieht dieses. „...und nichts anderes“ ist die Bedingung des Aufgangs eines Da, eines Dieses. Die Reinigung von Vorurteilen, die Ausräumung von Verstellungen, die Gelassenheit als das Sichlassen an das, was sich zeigt, ist die Folie, vor welcher das Siehe der Sache allein zum Phänomen wird. Im Grunde ist dies schon gesagt, indem gesagt ist: Das Siehe des Hinweisenden verschwindet im Siehe der Sache selbst, und der Hinblick verschwindet im Aufgang, im Da der Sache selbst. Das Nicht ist der Raum des Aufgangs der Sache.

Bernhard Weltes Denken hatte einen asketischen Zug, einen Zug der Enthaltsamkeit, welche über die Epoché der Phänomenologie im allgemeinen hinausging. Das Wort „lassen“ war ein wichtiges Wort bei ihm, eine Grundbestimmung seines Denkens: Laß, was du weißt, laß deine Weisen zu bemächtigen, zu verfügen, zu können; laß deine Einordnungen, laß dich durchkreuzen von dem, was dir aufgeht, arbeite alles hinweg, was dich und dein Auge daran hindert, reines Medium zu sein! Die methodische Anweisung wurde wie von selbst zur existentiellen – und hatte so erst ihr ganzes methodisches Gewicht[5].

Dritter Schritt: Ja. Das „Nein“ und „Laß“ bleiben aber nicht in sich stehen, halten sich selbst gerade nicht fest. Mein Sehen muß auch leer sein von seinem Leersein, darf auch nicht dabei stehenbleiben, zu sehen, daß es in sich selber nichts sieht. Reines, gelassenes Sehen ist in der Tat nichts anderes als Aufgang der Sache. Die Sache selbst, die Sache ganz, die Sache von sich her schenkt sich dem lauteren Hinblick. Der ganze Raum des eigenen Sehens und Denkens ist Offenheit für die Sache, so daß [107] er ganz von ihr aus gefüllt zu werden, sich in ihr zu sammeln und zu konzentrieren vermag, daß aber zugleich und in einem auch sie sich ganz zu entfalten, zu geben vermag. Wo das Siehe auf die Leere, auf die Gelassenheit des Hinblicks trifft, da entläßt es aus sich die Fülle, da entfaltet sich im Sehen und als Sehen die Sache selbst. Vom Denken, vom Sehen werden ihr keine Vorbedingungen und keine Grenzen entgegengebracht. Sie ist daher von sich her im Sehen und Denken. Und gerade so ist sie zugleich vom Denken her die Sache selbst, ist sie das Eigene und Vollbrachte des Denkens. Das Denken zehrt sich dahinein auf, nichts anderes zu sein als Aufgang der Sache, so aber ganz Aufgang der Sache zu sein, in allem ihr zuzusehen, sich ganz in den Aufgang der Sache einzubringen. Was in der vollkommenen Interpretation geschieht – nichts anderes als das Kunstwerk ist in ihr da, aber gerade so ist der Künstler selber ganz da; was in der vollkommenen Liebe geschieht – sie kennt nur den Geliebten und vollbringt so gerade das Selbstsein des Liebenden: das geschieht auch in jenem Ja des phänomenologischen Denkens, das nichts anderes ist als das Ja der Sache, die sich selber einbringt und zuträgt ins Denken hinein und in der das Denken sich vollbringt in die Sache hinein. Bernhard Welte verdeutlichte dies wiederum an Meister Eckhart: Die jungfräuliche, ganz und gar ihrer „Eigenschaft“ ledige Seele gebiert in der „Dankbärlichkeit“ das, was sie empfängt, vollbringt es aus sich[6]. Im Grunde – auch darauf verwies Bernhard Welte – spiegelt sich in dem Verhältnis zwischen dem zweiten und dritten Schritt der Negativität und der Positivität, dem Nein und dem Ja die aristotelische Grundeinsicht, nach welcher die Sache selbst die Methode ist[7].

Zwischen die drei ersten Schritte, in welchen Denken als Umkehr sich bislang auslegte, und die drei folgenden schiebt sich eine kurze Zwischenüberlegung. Das Siehe, das auf den Umkehrweg des Denkens brachte, wurde konkret vermittelt durch den Dienst des Phänomenologen, der sich freilich in den Gang des Aufgangs der Sache von sich selber her einbrachte und zurücknahm: Im ersten Schritt waren die Sache, die sich zeigt, und jener im Spiel, der sie zeigt. Es war der Anspruch der Sache, der zum Lassen, zum Nein, zur Reinigung und Negativität des sehenden Denkens in sich selber führte: Im zweiten Schritt wirkten also das sich lassende Denken und der Anspruch der [108] Sache zusammen. In diese unverstellte und unbegrenzte Offenheit aber eröffnete sich die Sache als sie selber von sich her – und so gerade vom Denken her: Der dritte Schritt geht von der Sache allein und doch auch vom Denken aus.

In allen bisherigen Schritten also ist latent ein „Und“ mit im Spiel – dieses Und gilt es nun mit folgenden Schritten in seiner Bedeutung und in seinen Dimensionen sichtbar zu machen und zu entfalten.

Vierter Schritt: Und (Ge-spräch). Hat sich meinem Denken die Sache aufgetan und angetan, ist sie „mein Denken“, „mein Sehen“ geworden, dann ist sie mir zu eigen geworden, zu eigen aber nicht im Sinne eines einsamen und eigenmächtigen Besitzens, sondern gerade so, daß sie, mir gehörend, sich gehört, auf mich zu und in mir aufgehend, aus mir aufgeht und über mich hinausgeht. Mein eigenes Sehen und Denken wird, dergestalt mit der Sache begabt und vertraut, von sich selber her zur Gebärde des „Siehe!“, zum Hinweis auf sie, zur Fähigkeit, sie sehen zu lassen, auf daß sie über mich selbst hinaus sichtbar werde, sich von sich selber her zeige. Denken ist nicht mehr nur rezeptiv oder passiv „phänomenologisch“, sondern aktiv, gewährend („das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selber her sehen lassen“). Es wird offenbar, daß Denken und Sehen von sich selber her offener Raum sind, nicht nur auf die Sache hin, sondern auch auf anderes Sehen und Denken hin: Sehen und Denken als kommunikativer Raum. Die Sache gerinnt zum Wort, Wort wird ermöglicht, und es zeigt sich als ermächtigt zur Gegenwart der Sache, zum Siehe.

Das „Siehe!“, welches unseren gesamten Gedankengang in der Gebärde des „Meisters“ Welte, der sehen lehrte und sehen ließ, verankerte und anstieß, war also doch nicht nur äußeres Vorspiel, sondern ursprüngliche Ortung des phänomenologischen Geschehens, des Sehens und Denkens. Dies rührt nicht am Primat des Aufgangs der Sache von sich selber her. Aber wieso ist dieser Aufgang von sich selber her Anblick und Anspruch? Jedenfalls kommt nur im zwischenmenschlichen Raum von Anblick und Anspruch Aufgang der Sache ins Sehen und Denken zustande, und diesem Zustandekommen ist der Raum des Mitseins, der Raum des Wortes, des Ge-sprächs keine äußere Bedingung der Möglichkeit, vielmehr Lebensraum, in den von sich selber her der Vorgang des Sehens und Denkens mündet, um sich neu und weiter in Gang zu bringen. Eine [109] Urqualität des Sichgebens, des Aufgangs von Wirklichkeit überhaupt kommt hier ins Spiel.

Wichtig ist zu betonen, daß ein aus dem phänomenologischen Vorgang gewonnenes Und des Gesprächs anderer Art ist als ein neutralisierend verstauender Allgemeinbegriff. Gewiß ist Sehen nur dann Sehen, wenn es sich auch im Sehen des andern, im andern Sehen bewährt, zumindest offen ist für solche Bewährung. Aber solche Bewährung im Sehen des andern nimmt eben diesem und einem selbst das Selbersehen keineswegs ab, sondern stößt es an. Allgemeinheit ja, aber Allgemeinheit als Gemeinsamkeit je neuer Ursprünge, je eigenen Sehens, in welchem die unerschöpfliche Fülle des Aufgangs der Wirklichkeit sich zeitigt.

Was hier strukturell ermittelt ist, hat nicht nur im Wie, sondern auch im Was der Phänomenologie Bernhard Weltes seine begründende Entsprechung[8].

Fünfter Schritt: Und (Welt-gefüge). Damit die Sache wahrhaft sich selber, ganz sich selber einbringen könne, sahen Sehen und Denken von sich ab, ließen sie sich und alles. Nichts anderes als die Sache sollte sich zeigen, sie und nichts anderes. Das gelassene Andere aber ist nicht ein verdrängtes Anderes, sondern ein verschenktes Anderes, ein in den Aufgang der Sache selbst hineingegebenes Anderes. Wie der im ersten Schritt „verschwundene“ sehenlassende Hinweis, der scheinbar von außen kam, als konstitutiv in unserem vierten Schritt zurückkehrte, so widerfährt es dem gelassenen Anderen (des zweiten Schrittes) in einem fünften Schritt, der ebenfalls in der Konsequenz des Ganzen liegt.

Was sich zeigt, das zeigt sich selbst – und so sein Sich-Zeigen. Weil das Denken sich ganz freimacht von sich und ganz eingeht auf das, was sich zeigt, kann es dieses Sich-Zeigen selbst nicht außer acht lassen. Dieses Sich-Zeigen gehört zur Sache selbst, die da aufgeht. In diesem Sich-Zeigen aber gehört zur Sache selbst ihr Raum, ihr Gefüge. Das je Sich-Zeigende ist konzentrierende Mitte eines es gewährenden Ganzen, das in ihm mit aufscheint. Nur in ihm hat das Sich-Zeigende auch seine Grenze, seine Unterscheidung, somit aber seine Bestimmung[9]. Nicht nur die Universalität als das Und des Miteinanders, des Gesprächs, sondern auch die Universalität als das Miteinander der Phänomene gehört zu jedem Phänomen und zu seiner Gegenwart im Sehen und Denken. Das Aufgeben der Vorurteile, [110] der mitgebrachten Einordnungen, der Reduktionen auf Bedingungen der Möglichkeit des Zustandekommens ist keine Punktualisierung und Verengung phänomenologischen Denkens, sondern die Freigabe in ein universales Gefüge, das anderer Art ist als das alles deduktiv miteinander verknüpfende System. Im Sinne von Bernhard Welte ließe sich sagen: Alles, was sich zeigt, bringt das Ganze ins Spiel, und Spiel wäre dann am ehesten eine Kategorie, diesen gefügten und doch nicht verfügbaren Zusammenhang, dieses Weltgefüge zu benennen[10].

Sechster Schritt: Und (Wahrheit als Entsprechung von Denken und Sein). Überblicken wir nochmals die bislang zurückgelegten Schritte.

An einigen Punkten, ansatzweise an allen Punkten, entdeckten wir bereits, daß eine Verteilung der einzelnen Schritte auf eine objektive und eine subjektive Seite, auf eine des Noema und eine andere der Noesis nicht angeht, sondern daß je die Sache und das Sehen zugleich im Spiel, zugleich konstitutiv sind. Als Gebärde des Sich-Zeigens ist das Siehe bereits Evokation des Sehens. Im Nein der Gelassenheit spannt sich das Denken bereits aus zu dem, was sich ihm zeigt. Im Ja der Entfaltung des Sich-Zeigenden bringt dieses sich dem Denken und vollbringt das Denken zugleich dieses. Das Und des Gespräches ist kein „Abtransport“ des Phänomens in das Feld der Kommunikation der Denkenden untereinander, sondern der Aufgang dessen, was sich zeigt, in seine ganze Gegenwart, in seine Gegenwart im Ganzen. So aber ist Gespräch von sich her wesenhaft Weltgespräch, Präsenz des Ganzen, so daß im Und des Weltgefüges nicht nur das, was sich zeigt, sondern zugleich das Denken erst in seine eigene Fülle, in seinen eigenen Horizont einstimmt.

Dann aber kann man das Ergebnis des bisherigen Weges auch nicht dahin zusammenfassen, daß in diesem zum einen eine methodische Anweisung für das denkende Sehen des Phänomens enthalten sei, zum andern aber die Konstitutionsbedingung, das formale Grundmuster dessen, was zusehendem Denken „Sache“, Gegenstand werden könne: etwas, das Aufmerksamkeit erregt, nichts anderes als es selbst, so aber es selbst sei, darin einen Sinngehalt, eine Kommunikabilität erhalte und sich einfüge in die Bedingungen des Alles, des Ganzen.

Natürlich läßt diese abgewiesene Deutung unseres Weges eine gewichtige Seite dessen sehen, was sich da zu sehen gibt, aber sie nähme an dem, was sich zeigte, eine vom Sich-Zeigen und [111] vom Sehen selbst und allein her nicht gerechtfertigte Aufteilung in zwei Hälften vor. Sicher stehen das, was sich zu sehen gibt, und das Sehen selbst in wechselseitigem Bezug, und zwar dergestalt, daß der Anfang des je einen der Aufgang des je anderen ist. Die Strukturen entsprechen sich, aber in ihrer Entsprechung sind sie die Zueignung dessen, was beides, Sich-Zeigen und Sehen, Sehenlassen und Sehen einander zuweist, versammelt. Gerade diesem im Phänomen Versammelnden, gerade der sich in der Fügung von Erscheinen und Denken eröffnenden Wahrheit als dem gewährenden und versammelnden Ereignis hat sich zuletzt und zutiefst Bernhard Weltes Denken je zugewandt. Das Ereignis dieser Wahrheit selbst ist die Gebärde und der Anruf des Siehe, das je Überragende des Nicht, darin aber sich eröffnende Gewähr, die das Miteinander stiftet und alles ins umfassende Spiel fügt. Das Und der Wahrheit ist das Versammelnde, Eröffnende, Überragende im Gang seines phänomenologischen Denkens.

Siebter Schritt: Gestalt und Gestaltung. Endet unser Gang nicht an diesem Höhepunkt, an dieser Spitze des Verweises auf das gewährende und versammelnde Geheimnis der Wahrheit? Bernhard Welte erfuhr gerade in dieser Spitze immer neu die merkwürdige Gewalt einer nochmaligen Umkehr. Alle Phänomene wurden ihm zum Verweis auf das je Größere, zum Boten ihrer Herkunft aus dem Unsäglichen. Aber eben als Verweis und als Boten gewannen sie Gewicht, ihre Gestalt zerging nicht, sie wurde bedeutsam. Das Geheimnis eignet sich in ihr zu, es ruft uns zu sich und schickt uns hinein in Gespräch und Welt. Wir können die begrenzten Zeichen der Phänomene nicht hinter uns lassen, sondern müssen sie in ihrer Endlichkeit wahrnehmen, müssen in ihnen die Verbindlichkeit des Auftrags ernstnehmen, im Sehen und Sprechen zu leben, zu sterben, Welt, Leben und Sterben zu gestalten. Die Fragen der Zeit, der Gesellschaft, der Kirche standen für Bernhard Welte nicht als Neben-Sache neben der Sache des Denkens, sie waren nicht Experimentierfeld zweiten Ranges für sein phänomenologisches Denken, sondern dieses fand sich gerade in der Lauterkeit seines unverzweckten Ganges, auf den Weg durch diese Zeit, in dieser Gesellschaft und in dieser Kirche gewiesen. Die Phänomenologie, die sich des Lebens mit dem, was sich dem Denken zeigt, enthielte, enthielte sich des ganzen Sehens; erst in der Bewährung, im Gestalten und Erleiden nimmt das Sehen die Sachen als das [112] wahr und ernst, was sie von sich her, was sie aus dem Geheimnis der sie gewährenden und zuschickenden Wahrheit her sind. Die phänomenologische Umkehr zu den Sachen ist in der Tat eine doppelte Umkehr zu den Sachen, eine Umkehr weg von unseren verfügenden Begriffen und Absichten, aber auch eine Umkehr weg von unberührbarer Unverbindlichkeit.