Unterscheidungen

Politik als Kunst der Freiheit*

Allerdings: Wenn die skizzierten Entwicklungen als Flucht vor dem Politischen bezeichnet werden, so ist hier bereits ein Vorverständnis des Politischen unterlegt, das es im folgenden positiv zu entfalten gilt. Das Politische soll dabei nicht zuerst als Bereich neben anderen Bereichen verstanden sein; es geht nicht primär um eine Abgrenzung des Politischen gegenüber dem Gesellschaftlichen oder dem Religiösen. Vielmehr soll die Handlungsstruktur des Politischen als solchen in den Blick treten.

Die erste grundlegende These lautet: Politik ist Kunst. Es geht [119] beim politischen Handeln um die Gestaltung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sofern diese Wirklichkeit gestaltet wird, ist eine Idee im Spiel, wird eine Idee umgesetzt. Dies trifft immer zu, und zwar auf doppelte Weise. Einmal hat der politisch Handelnde seine Intention, sein konkretes Ziel, das noch nicht wirklich ist und das er politisch handelnd ins Werk setzt. Das gilt auch von jenem, der „nur pragmatisch“ Politik treibt. Doch auch das andere gilt nicht minder allgemein: Sofern politisches Handeln in der Gesellschaft etwas bewirkt, etwas in ihren Verhältnissen ändert oder stabilisiert oder eröffnet, entspricht sein Effekt einer Idee von Gesellschaft, mag der politisch Handelnde dies wissen und wollen oder nicht. Wie das, was der Mensch sieht und hört, selbst wenn er es wider Willen sieht und hört, die Gestalt seines Lebens prägt, so prägt und gestaltet das, was politisch geschieht, die an diesem Geschehen beteiligte Gesellschaft. Sie erhält durch die Politik, die sie tut, die sie akzeptiert oder in die sie verstrickt ist, die Ausformung ihrer eigenen Struktur. Es bleibt jeweils an die politische Wirklichkeit die Frage zu stellen: Darf und kann Gesellschaft so sein? Zur Politik als Kunst gehört es nun aber, daß die Idee, zu deren Realisierung die Politik faktisch immer beiträgt, und die Intention dessen, der Politik treibt, zusammenfallen; anders gesagt: daß der politisch Handelnde weiß und will, was er bewirkt, und daß er in der Gesellschaft bewirkt, was er weiß und will. Politik heißt, eine Idee haben, wie Gesellschaft sein soll, und die Kraft haben, die Gesellschaft nach dieser Idee zu gestalten.

Das spezifisch Künstlerische der Politik zeichnet sich indessen im Verhältnis von Idee und Wirklichkeit zueinander ab. Kunst reproduziert nie nur Maßstäbe, sondern setzt Maßstäbe, erzeugt sie aus sich selbst. Ein Sonatensatz beispielsweise, der nichts anderes wäre als die Abhandlung seiner vorgefertigten Form, wäre weniger Kunstwerk als jener Sonatensatz, der sozusagen nur im nachhinein zu den Formgesetzen seiner Gattung paßt, der also aus seinem inneren Geschehen die Form erschafft, die er „bestätigt“. Das Kunstwerk setzt seinen Maßstab, es setzt ihn aber nicht willkürlich, sondern derart, daß darin sichtbar wird: So muß es sein. Gerade wenn [120] ein Kunstwerk „Ereignis“ ist, steht die Frage auf: Wieso konnte es einmal nicht sein? Dies besagt nicht den Ausfall von Orientierung an Vorgegebenheiten und Normen, sondern ihre „induktive“ und „produktive“ Einholung im genetischen Geschehen. Angewendet auf die Politik: Sie ist immer „neu“ und gerade darin Aufgang der Identität der Gesellschaft, Findung ihrer Lebensform und Lebensnorm. Große politische Lösungen sind solche, die ihr Konzept und ihren Effekt ausweisen als die gerade jetzt fällige Antwort auf die Situation, als die gerade jetzt gültige Gestalt gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Was aber ist das Kennzeichnende gerade der Kunst, welche die Politik ist? Hierzu eine zweite These: Das, was Politik gestaltet, ihr „Stoff“, in dem sie sich realisiert, ist die Freiheit als Freiheit, und zwar die Freiheit als gemeinsame Freiheit, die gemeinsame Freiheit als Subjekt der gemeinsamen Zukunft, als die Voraussetzung dessen, was jetzt noch nicht ist, aber werden wird. Politik, selbst „autoritäre“ Politik, ist immer auf Zustimmung angewiesen; gerade bei autoritären Systemen kommt es auf „Volksabstimmungen“ an, die ein überwältigendes „Ja“ aller dokumentieren sollen. Was die Politik in der Gesellschaft realisiert, soll sich jeweils als das bestätigen, was die Gesellschaft auch von sich aus will. Der Politiker, und dies ist seine Kunst, muß seinen Willen, er muß seine Idee haben, und er soll von dieser seiner Idee gerade keine Abstriche machen. Aber diese seine Idee soll die Idee auch der Freiheit der anderen werden, und dies, dem Wesen der Politik gemäß, nicht nur zum Schein, sondern in Wahrheit. Aus der Freiheit der andern, aus ihrer Mitursprünglichkeit soll die Idee gesellschaftlicher Wirklichkeit – und entsprechend diese Wirklichkeit selbst – hervorgehen. Die Konsonanz der Freiheiten und ihre Kooperation, ihre Partnerschaft, sind der Raum, in dem Politik geschieht, geschieht als der Entwurf der Zukunft und als ihre Voraussetzung.

Gerade dieses Verständnis von Politik bestätigt einerseits den Zug der Neuzeit, der Gesellschaft als ganze zum Subjekt ihres politischen Handelns werden läßt; dieses Handeln der Gesellschaft soll aber ein Handeln aus ungebrochen vielfältigem Ursprung, es soll [121] ein Handeln sein, das als seine Grundform nicht die Ausflucht in das Neutrum eines steuernden Apparates oder in die sich von ungefähr ergebende Mehrheit der Stimmung und Einsicht des Augenblicks kennt, sondern das Gespräch der Überzeugung, des Einverständnis suchenden Ringens ums Selbe.

Das „Erfinderische“ der Kunst, welche die Politik ist, liegt darin, jene Formeln zu erheben, die die Übereinstimmung vieler miteinander in derselben Idee und im selben Handeln gewährleisten. Solche Übereinstimmung darf sich freilich nicht auf eine Leerformel stützen, durch welche Gemeinsamkeit nur vorgetäuscht, das Nebeneinander der Standpunkte aber nicht in die Gemeinsamkeit der Aktion aufgehoben wird. In anderer Richtung gelesen: Das Erfinderische der Politik besteht darin, die faktischen Möglichkeiten als Stoff für die Verwirklichung der politischen Idee aufzuspüren und nutzbar zu machen und umgekehrt aus den Gegebenheiten, aus der Wirklichkeit den zündenden Funken weiterweisender Möglichkeit herauszuschlagen.

Die Freiheit, die gemeinsame Freiheit, die gemeinsame Freiheit als Träger der Zukunft: das ist indessen nicht nur der „Stoff“ der Kunst, welche Politik heißt. Wenn Freiheit Freiheit ist, und wenn es um die Gemeinschaft und um die Zukunft der Freiheit und in Freiheit geht, dann ist dieser Stoff selbst auch zuletzt und zuhöchst die Idee selbst, welcher die Politik dient, ihr Inhalt. Freiheit wäre nicht mehr frei, wo sie auf anderes hin verplant würde. In dem, was ihre Kunst ausmacht, findet die Politik auch ihr wesentliches Maß. Dies ist eine dritte These zum Wesen und Unterschied des Politischen. Freiheit ist politisch nicht im Sinn eines formal leeren Freiheitsbegriffs zu verstehen. Freiheit soll als gemeinsame gerade nicht nur das Nebeneinander von gegenseitig sich nicht störenden Beliebigkeiten einzelner bedeuten, die durch ein System gegenseitiger Sicherung voreinander und durcheinander geschützt wären. Politik als das ernste Spiel der Gemeinschaft der Freiheit muß die ganze Spannung der Freiheit austragen: Freiheit ist je die meine und die deine, aber sie ist es als Freiheit füreinander, zueinander und durcheinander. Und nur in dieser Annahme der gegenseitigen Ver- [122] wiesenheit und Abhängigkeit, nur in der Gewähr der Offenheit, daß jede Freiheit frei sein kann und jede Freiheit in Kommunikation stehen kann mit der Freiheit der andern, ist Politik wahrhaft Zusammenspiel. Als die bloße Synchronisierung der Unabhängigkeiten wäre sie der Apparat, der die vereinzelte Freiheit im Gefängnis ihrer selbst isolierte.