Franz von Baaders Philosophischer Gedanke der Schöpfung
Prinzip der vorgängigen Vertrautheit
Der Weg des Gedankens führte bis zur Mitte der Vertrautheit allem Dasein voraus und berührte sodann von dieser Mitte aus den Rand ihrer Gestalten in unserm Dasein. Was gewährt nun diesen Schritten ihren einen Boden, was ist das Prinzip der Vertrautheit?
Wo Vertrautheit herrscht, kommt es auf nichts an. Wenn sich kein Darauf-Ankommen geltend macht, waltet Stille und Verhaltenheit. Diese wurzelt darin, daß in der Vertrautheit alles innesteht, was sich begegnend im Horizont meines Entscheides erheben kann1. Nur im Alles oder im Nichts waltet unstörbare Stille, weil nur hier das Störende, die Ausschließung, ausgeschlossen ist. Im Alles der Vertrautheit ist jeder Gehalt meines möglicherweise folgenden Entscheides als dieser besondere aufgehoben und als enthalten und umfaßt doch da.
Und auch ich bin darin mir vertraut. Ein jedes ist mir in der Vertrautheit da, doch da nur als Gestalt des ruhenden Alles, in diesem aufgehoben, und so bin auch ich mit da in dieser alles umfangend-aufhebenden Helle, bin mit mir eins, indem ich mit allem eins bin, halte mich selbst durch als den Raum meiner Vertrautheit, die nichts und so sich und so mich nicht verliert, indem sie mit allem vertraut ist. Mein Wesen ist Sein bei allem und darin zugleich Beimirsein.
Dieses Beimirsein geschieht (sofern es „geschieht“) nicht reflexiv, sondern in der geradlinigen Bewegung meiner Offnung zu allem hin, so wie das Kind weiß: ich spiele, ich bin – nicht indem es das Spielzeug verläßt und sich auf sich zurückwendet, sondern indem es spielend beim Spiel „dabei“ ist.
Das Beisichsein der Vertrautheit ist wesenhaft „Dabeisein“, nicht aber Sich-Gegenübersein, das, seinem ursprünglichen Dabeisein entraten, sich aus der Differenz zu ihm verhielte und einholte. Das Dabeisein der Vertrautheit ist nicht mit sich selbst befaßt, sondern eben „dabei“ und so zugleich aufgehoben und da. Vertrautheit ist Beisichsein, aber nicht bei ihrem Beisichsein. Wenn ich aus dem Schlaf, dem Spiel oder dem Umtrieb meines zwingenden Ausdenkens aufschrecke ins Außer-mich und dann „zu mir“ komme, komme ich je zu mir nicht als zu einem vorhandenen Ding, sondern zu mir als dem zuvor gegründeten, aber nicht als solchem vollzogenen Beimirsein, zu meinem immer schon geschlossenen, aber noch nicht ergriffenen Selbstbezug.
Woher nun ist alles und bin ich mir vertraut? Das Band der Einheit, das in mir alles umgreift und so erst zum Alles, zum Ganzen für mich macht, ist nichts anderes als das, was alles in sich und überhaupt zu allem macht, es ist die Einheit der Wahrheit, des Seins, dessen, was gewährt, daß alles ist, was es ist. Indem ich bin, ist dieses mir da, mein Dasein besagt ineins Gegenwart [33] der Wahrheit überhaupt. Daß ist, was ist, dies ist der stille Grund, von dem jeder der möglichen Schritte meines Geistes getragen ist, das meinem Vollziehen Vorgegebene, von dem ich mich nie ablösen kann; es ist mein stetes Zugleich, ist das in meiner Vertrautheit vorausgesetzt ermöglichende Vertrauen.
Das kann gewußt und gesagt werden als Selbstverständlichkeit, kann aber auch aufgehen als Wunder meines Staunens, das mich betrifft. Dann ist es aus der bloßen Vertrautheit herausgetreten und wendet sich an meinen Entscheid, fordert meinen Selbstvollzug, die Annahme, das Ja, in welchem ich in höchster Aktivität gelassen bin, sein lasse, was ist. Daß alles ist, was es ist, erhält hier einen verwandelten und erfüllten Klang.
Innerhalb der bloßen Vertrautheit dagegen hat sich das Unbedingte der Wahrheit nicht an sich genommen, sich mir gegenüber nicht erhoben als fordernde Macht, ist kein zu überwindender Unterschied aufgebrochen zwischen dem an sich Wahren, daß ist, was ist, und meiner Übernahme, meinem Vollzug der Wahrheit. Die Wahrheit ist da, aber nicht in der Spannung, aus der ich sie ergreifen, mich für sie entscheiden müßte, sondern sie umgreift alles, gibt allem seinen Stand und seinen Ort, waltet als der Raum, der alles sein läßt, was es ist, und tritt so nicht als sie selbst hervor, nicht in Differenz zu ihrem Wahren. Daher setzt sich auch der einzelne enthaltene Gehalt nicht heraus aus der Allvertrautheit, um mich in den Ernst des Entscheids zu rufen. Die bergende Verborgenheit des alles tragenden Grundes stellt alles und mich in meine Vertrautheit hinein.
So ist mein Wesen und also das Prinzip meiner Vertrautheit nicht nur Sein bei allem und Bei-mir-Sein, sondern darin Sein bei der Wahrheit. Offen zu allem und zu mir, bin ich zur Wahrheit offen. Ihre Anwesenheit mein Wesen2, Grund meiner Vertrautheit. Von hier eröffnet sich ein Weiteres: „Ich bin“, daß alles ist, was es ist. Doch ich „bin“ darin, daß auch ohne mich alles ist, was es ist, indem ich das, was mir begegnet, nur „wiederhole“ in dem und in das, was es ist. Wahrheit waltet in mir, Wahrheit aber auch vor mir und ohne mich. In mir aber waltet sie – woher denn sonst? – von sich her, aus ihrer Gewähr. So entspricht in der Wahrheit, die meine Vertrautheit gewährt, sie mir und mir mein Dasein gewährt, selbst etwas den beiden Kreisen der „Begegnung“, die meinen Vollzug konstituieren: Ich selbst bin „angefangen“ aus dem Walten der Wahrheit, die ohne mich waltet und in mir sich „wiederholt“ hat, wenn ich sie anfangend wiederhole.