Theologie als Nachfolge

Profil der bonaventuranischen Synthese

Wie läßt sich aus solchem Befund die Frage nach dem Wie einer Vermittlung theologischen Ansatzes von oben und von unten, von Gott und vom Menschen her beantworten? Versuchen wir den Ertrag in fünf Schritten zusammenzufassen. Die erste, grundlegende Einsicht: Bonaventuras Denken ist zwar eindeutig ein Ansatz von oben, aber nicht im Sinn eines Systems, das aus einer Prämisse heraus entwickelt, dessen Einzelpositionen aus einer Erstposition deduziert würden. Der Ansatz von oben stiftet Beziehung, Gegenseitigkeit, und er erschließt sich nur in Beziehung und Gegenseitigkeit. Der Ursprung des Denkens im Zueinander von Empfangenhaben, Anrufung, neuem Empfangen und Aufsteigen enthebt uns dem gezeichneten Dilemma eines bloß theologischen oder bloß anthropologischen Ansatzes, die beide letztlich in eine Absolutsetzung des menschlichen Denkens zurückfallen. Denn ob der Mensch sich nun selbst zum Maß dessen erhebt, was er von Gott wissen, erwarten und empfangen kann, oder ob der Mensch Gott als Prinzip in sein eigenes Denken einsetzt, dabei die Endlichkeit eigenen Sprechens und Erkennens vergessend oder übergehend und somit heimlich verabsolutierend, immer wird Gott subsumiert unter den menschlichen Gedanken, und immer bleibt diesem Gedanken daher, zumindest verborgen, der Stachel der Unheimlichkeit für sich selbst. Wo jedoch die Alleinigkeit des Anfangs Gottes gerade seine Alleinigkeit in der von ihm gestifteten und freigesetzten Beziehung zum Menschen und des Menschen zu ihm ist, da bleibt Gott Gott und der Mensch Mensch, gerade auch wenn der Mensch in die innigste Einung mit Gott hineingenommen wird und wenn der Mensch sich und alles so sehr Gott verdankt, daß Gott wahrhaft alles in allem ist. In einem zweiten Schritt, der freilich im ersten schon mitgesetzt ist, zeigt sich ausgerechnet in der „Exklusivität“ des bonaventuranischen Ansatzes von Gott her die anthropologische Perspek- [52] tive allein als gewahrt. Geht der Mensch nämlich von seiner Vorfindlichkeit und von dem aus, was an Bedürfnissen, Erwartungen und Steigerungsmöglichkeiten aus ihr herausanalysiert werden kann, so bleibt er notwendig mißtrauisch, wenn die Botschaft von der Erfüllung genau „paßt“: Hat er sich nicht nur selbst extrapoliert, sich selbst nur sein eigenes Bild vorgemalt, nur die Linien seines eigenen fragmentarischen Daseins ausgezogen? Wo das Geschenk nur von der Erwartung, wo die Erfüllung nur vom Bedürfnis, wo das Ziel nur vom Streben her gelesen wird, da bleiben Geschenk, Erfüllung und Ziel in der Schwebe – und in solcher Schwebe droht der Mensch in sich selbst zurückzusinken, droht er dessen, was größer ist als nur er, und darin gerade seiner selbst verlustig zu gehen. Gewiß behält die Analyse menschlicher Existenz auf ihr Woraufhin ihren heuristischen Wert – eine Botschaft, die am Menschen vorbeiginge, könnte nicht Botschaft für den Menschen sein, und ein Streben des Menschen über sich hinaus, das mit seinem Sein unlöslich verbunden ist, darf ihm als Zeugnis eines Woher und Wohin gelten, die größer sind als er selbst. Doch eingeholt wird der Mensch zu sich selbst nur dort, wo nicht mehr die Gabe von der Not her interpretiert wird, sondern das Geschenk allererst den Beschenkten interpretiert. Genau das aber ist die Weise, wie Bonaventura den anthropologischen Ansatz integriert. Der Mensch ist hin auf den Frieden, aber auf jenen Frieden, der den Begriff übersteigt; er ist hin auf die Einung mit Gott, aber diese Einung mit Gott ist dort noch nicht erreicht, wo sie nur „angemessen“ wäre an das, was der Mensch aus seinem eigenen Sich-Transzendieren wünschen und träumen kann. Die Positivität der Gabe, in der Gott unerwartbar und unvorstellbar sich selber gibt, wird zum Maßstab, an dem der Mensch sich selber lesen und sich so mit sich selber identifizieren kann, daß er sich nicht mehr in die bloße Fraglichkeit seiner selbst hinein enträt. Im selben Grundcharakter des Geschenkes, von dem her der Mensch und das Menschliche im theologischen Ansatz Bonaventuras gewahrt sind, eröffnet sich noch ein Drittes: Die Spannung zwischen dem göttlichen Anspruch des Offenbarungswortes und seinem unlöslichen Eingelassensein in die Perspektivität und [53] Relativität menschlichen Sprechens und Denkens hört auf, bloßes Paradox, bloßer Widerspruch zu sein. Wenn das Offenbarungswort aus der Logik des Geschenkes her verstanden wird, so wird die Notwendigkeit gesprengt, Kerygma und Geschichte auseinanderzureißen, Botschaft und Verheißung bis zum Inhaltlosen zu formalisieren und Glaube allein zum Selbstvollzug der Existenz angesichts seines unsäglich Anderen werden zu lassen. Denn wenn Gott sich schenkt, ist er in seinem Geschenk dort, wo und wie der Beschenkte ist, und geht gerade doch als der je Größere auf, der sich verendlichend nicht weniger absolut, der niedersteigend nicht weniger oben, der sich verständlich machend nicht weniger unfaßbares Geheimnis ist. Das durch die formalen Bestimmungen „Beziehung“ und „Geschenk“ eingeführte Spezifikum des bonaventuranischen Modells zeigt durch eine weitere „formale“ Bestimmung – dies ein vierter Schritt – seine inhaltliche Bedeutung. In der Struktur bonaventuranischen Ansatzes hat doch Gott selbst beim theologischen Denken die konkrete Initiative. Nicht nur das Ziel der seligen Schau ist, in einer eigentümlichen Wendung Bonaventuras gefaßt, contuitus, Mitschauen mit dem Schauen Gottes1 anstelle einfacher Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen Anschauendem und Angeschautem; auch die Theologie geschieht im aktuellen Blicktausch zwischen Gott und dem Menschen: Der Mensch beginnt aufzuschauen zu Gott, findet sich darin aber angeschaut, doch dieses Angeschautsein ist nicht nur Perfekt, sondern Präsens, aus dessen Kraft der Gedanke und sein Weg gelingen. Der Ansatz der Theologie wird so Ansatz Gottes in die Theologie hinein – nicht dergestalt, daß die Theologie insgeheim über Gott verfügen, sich göttliche Qualität anmaßen könnte, sondern indem sie sich ganz und gar angewiesen weiß auf seinen Blick, auf sein Licht. Doch was sagt solche – zugleich fundamentale und je gegenwärtige – Initiative Gottes über Gott? Sie hebt ihn ab von einem bloß statisch-ewigen Seinslicht, von einer bloß aus ihrer Vorausgesetztheit her wirkenden absoluten Substanz, Natur oder Geistigkeit. Der initiative Gott, das ist die eigentliche theologische Differenz, und die bonaventuranische Deutung solcher Initiative geht [54] hin auf den Charakter der Unselbstverständlichkeit, des Je-mehr, des Unerrechenbaren, das solche Initiative bedeutet, somit aber der Liebe. Von hier aus werden Bestimmungen wie Beziehung, Struktur, Geschenk sprechend.

Und – so läßt sich in einem letzten Hinblick sagen – von Gott als initiativer Liebe her erhalten die Momente der eingangs gezeichneten Struktur, Oben und Unten, Niederstieg und Aufstieg, Unbedingtes und Anderes, ihre qualitative Färbung. Der theologische Ansatz im Raum zwischen Anrufung und Erleuchtung, Anspruch und Gehorsam, Ruf und Nachfolge ist kein bloßes Durchspielen der Selbstanalyse des Denkens, das sich im höchsten Fall als vom anderen seiner selbst her gewährt und ermächtigt, wiederum zu sich selbst eingesetzt weiß. So bestätigt der Ansatz zugleich von oben und von unten den Charakter von Theologie bei Bonaventura und über ihn hinaus als reflektierte Nachfolge. Sowohl die Strukturmomente als auch ihre qualitative Bestimmung im Modell des Ansatzes sind dieselben, wie sie uns bei der Reflexion auf Nachfolge bereits aufgefallen sind. Weil Nachfolge bei dem anfängt, dem sie nachfolgt, weil sie sich nur von ihm her als möglich und wirklich versteht und weil sie gerade darin die eigene Welt und die eigene Existenz einbegreift, ist letztlich sie die Antwort auf die Frage nach der Vermittlung des Ansatzes von oben und von unten, von Gott und vom Menschen her.


  1. Hexaemeron V, 33. ↩︎