Was heißt Glaubenssituation

Programmatische Konsequenzen

Die methodische Forderung einer „Differentialanalyse“ in zweifacher Richtung präzisiert das theologische Programm, das im Begriff der Glaubensituation für deren Analyse bereits enthalten ist.

  1. Die Analyse der Glaubenssituation erfordert eine Korrelierung zwischen allgemeiner Verstehenssituation und spezifischer Situation der Tradition christlichen Glaubens. Es ist also zu fragen: Welches ist die hermeneutische Grundverfassung unseres Zeitalters, wo liegen seine eigentümlichen Ansätze, Sperren und Wege des Verstehens, welches ist demgegenüber die Weise, wie sich heute christlicher Glaube zu verstehen gibt, wie er verkündigt, angeboten, tradiert wird, und welches ist das Verhältnis zwischen diesem heutigen Verstehenshorizont und der heute angebotenen Traditionsgestalt christlichen Glaubens? Diese Fragen ihrerseits erhalten ihr Profil aber erst, wenn die jeweilige Situation in die zugeordnete Geschichte - die „allgemeine“ Verstehensgeschichte und die Traditionsgeschichte christlichen Glaubens sowie in die Geschichte des gegenseitigen Verhältnisses beider - eingefügt, von ihr her gelesen wird. Die theologisch relevante Frage für die Anwendung der Situationsanalyse auf die Situation lautet: Wie kann einerseits der Kern christlicher Tradition, der unverfügbar ergangene Anspruch Gottes an den Menschen in Jesus Christus in seiner geschichtlich konkreten Verfaßtheit, wie kann andererseits zugleich die Intention dieses Anspruches gewahrt werden: den Menschen anzugehen, wie und wo er ist?

  2. Was von Verstehen und Tradition, von ihrem Verhältnis in der Situation und vom Verhältnis der Kurven ihrer Geschichte gesagt wurde, gilt ebenso vom Bedürfnis des Menschen und von jenem Angebot, welches das Evangelium, welches der Glaube an das Bedürfnis des Menschen richtet. Auch hier genügt es nicht, Differenzen und Entsprechungen zu konstatieren und Assimilierungen zu versuchen; auch hier muß das Jetzt aus dem Kontext seiner Vorgeschichte heraus verstanden und auf seine immanente Dynamik zur Zukunft hin gelesen werden; auch hier muß jene Spannung des Zugleich von Entsprechung und Widerspruch zwischen evangelischem und anthropologischem Apriori bestanden werden, in welcher das Evangelium nur Evangelium und der Mensch nur Mensch bleibt.

  3. Nochmals dasselbe wäre auszuführen im Blick auf Wertvorstellungen, die in der Gesellschaft verbreitet sind, und Wertvorstellungen, die sich mit dem Glauben und der Weise, wie er in der Gesellschaft verstanden wird, assoziieren. Gerade hierzu haben die Umfragen und hat vor allem der Forschungsbericht entscheidende [37] Vorarbeit geleistet1; von der Differentialanalyse der unterschiedlichen Wertvorstellungen aus lassen sich für die Verstehenssituation und die Situation der Bedürfnisse wichtige Zugänge erschließen. Gerade hier wird aber auch sichtbar, wie kurzschlüssig es wäre, Assimilierung um jeden Preis als die situationsgerechte Antwort zu postulieren.

  4. Für die Glaubenssituation entscheidend ist der Bezug zwischen Objektivation und Überzeugung. Auch er kann nur gedeutet und bewältigt werden, wenn die Geschichte der Objektivationen in ihrem Verhältnis zur Geschichte der Überzeugungen transparent wird. Wie und wodurch verschiebt sich die Entsprechung zwischen praktizierter Glaubensgestalt und innerlich übernommener Glaubenshaltung, zwischen in der Gesellschaft präsenten Zeichen und Angeboten von Glaube und der damit assoziierten Glaubenserfahrung? Dieser Programmpunkt ist bedeutsam für die Klärung des Problemkreises Volkskirche – Entscheidungskirche und für die Korrelation zwischen der Glaubenssituation und der Gesamtsituation menschlicher Existenz.

  5. Von besonderem Belang ist das Verhältnis von Angebot und Anspruch des christlichen Glaubens zu den anderen Angeboten und Ansprüchen, die dem Menschen unserer Zeit Antwort auf die Sinnfrage, Deutung des Daseins und der Welt verheißen. Die Glaubenssituation wird gerade durch die Veränderung dieses Verhältnisses bestimmt. Zwar trügt der absolut gesetzte Anschein, als wären bislang Christentum und Kirche die ausschließlichen deutenden Instanzen des Daseinssinnes gewesen; dennoch hat sich die Konkurrenzsituation in der Tat wesentlich verschoben. Wie hat sie sich verschoben, und was bedeutet diese Verschiebung für den Wahlraum der Freiheit des einzelnen? Ziel dieser Fragestellung kann es primär nicht sein, die „Marktlage“ fürs Christliche zu verbessern, sondern sie zu klären: das Christliche soll dem Menschen von heute angeboten werden - aber gerade als das unverwechselbar und authentisch Christliche.

  6. Eine durchlaufende Perspektive durch die bisherigen Fragestellungen muß in einer umfassenden Situationsanalyse eigens thematisiert werden: die Problematik der gesellschaftlichen Determinanten menschlicher Freiheit. Wie haben sich die Mechanismen verlagert, in die sich Entscheidung und Vollzug der Existenz des einzelnen bewußt oder unbewußt eingespannt finden? Situation des Glaubens ist, theologisch und anthropologisch, Situation jener Freiheit, die nicht einfachhin Freiheit von Determination, sondern Verhältnis zur Determination bedeutet; Determinanten als solche zu durchschauen ist Vollzug und Erweiterung dieser Freiheit.


  1. Vgl. FB 40–93. ↩︎