Was heißt „katholisch“ in der katholisch-sozialen Bildung?

„Prospektive“ Gerechtigkeit

An dieser Stelle wird es erforderlich, nochmals auf die „Zwischenbemerkung“ über Gerechtigkeit zurückzukommen. Sind Offenbarung, Naturordnung und Empirie Quellen, die sich verbinden müssen in einer katholischen Theorie und Praxis des Sozialen, so ist „Gerechtigkeit“ ein allgemeiner Zielbegriff sozialer Ordnung, nach dem es nun zu fragen gilt. Was kann in katholischer Sicht Gerechtigkeit heute in einem umfassenden Sinn heißen? Es ist also zu fragen: Was bedeutet Gerechtigkeit, woran nimmt sie ihren Maß-[22]stab?

Wohin richtet sich der Vorblick der prudentia, der sie, ihr wesentliches Maß, gewahrt? Gerechtigkeit gibt jedem das Seine. Dieses Seine, das wurde bereits deutlich, erschöpft sich nicht nur in dem, was für die Gegenwart oder Zukunft aus schon vorliegenden, also der Vergangenheit entstammenden Rechtstiteln jedem gebührt. Wenn ein „Rechtstitel“ aus der Natur des Menschen ihm schon vorgegeben ist, schon immer zu seiner Natur gehört, dann gewiß der, daß der Mensch ein Wesen auf Zukunft hin ist. Die Zukunft ist das „Seine“. Aber welche Zukunft? Was heißt hier Zukunft? Es wäre möglich, hier die Grunddimensionen dessen aufzuzeigen, was material zur Zukunft als dem gehört, was des Menschen, was sein Recht ist. Bei der Suche nach einem letzten und allgemeinsten Nenner kann indessen Rosenzweigs „Und“ wiederum behilflich sein. Zukunft hat der Mensch nur dann, wenn er zwar als er selbst sie hat, wenn diese Zukunft ihn nicht auslöscht oder wegreißt von sich selbst, untergehen läßt in einem Allgemeinen. Aber nicht schon dann, wenn der Mensch „überlebt“, innerlich und äußerlich, hat er Zukunft im menschlichen Sinn. Zukunft schließt ein, daß der Mensch auf den Menschen zukommen, daß die Welt auf den Menschen zukommen und er auf sie zugehen kann. Zukunft ist der Raum, in welchem das „Und“, die Beziehungen der Menschen zueinander und die Beziehungen der Menschen zur Welt gewährt und gerettet sind. Es geht, recht verstanden, um die „universale Gesprächssituation“, wenn es um die Zukunft geht. Gerecht wäre eine Ordnung demnach dann, wenn sie diese Gesprächssituation eröffnet und wahrt. Mit Gesprächssituation ist indessen keineswegs bloß gemeint, daß ein von außen unbehinderter Meinungsaustausch, eine freie Äußerung der Meinung gewährleistet sein müssen. Dies gehört unabdingbar hinzu. Gesprächssituation meint aber etwas noch Radikaleres. Christlich betrachtet gehört hinzu, daß der Mensch die „Anredbarkeit“ durch das Wort Gottes, die reale Chance erhält, von Gottes an alle gerichtetes Wort auch so getroffen und gefunden zu werden, daß er es als Wort des Angebots verstehen kann. Es soll hier wiederum nicht darum gehen, die sozialen Grunderfordernisse einzeln aufzuführen, die hierzu gegeben sein müßten – etwa daß nur ein in Freiheit angebotenes, ein gerade nicht zwingendes Wort der Verkündigung die Situation des „Glaubens“ eröffnet. Dieser Hinweis gilt vielmehr der humanen Grundbestimmung, daß der Mensch ein „Recht“ darauf hat, so zu leben, sofern es von anderen mit abhängt, daß er an ein Wort der Liebe und der Befreiung zu glauben vermag, daß er über die bloße Notdurft des Augenblicks seine Erwartung überhaupt hinaus zu richten vermag auf ein Wort, das ihn als ganzen und freien Menschen meint. Damit ist aber wiederum in der theologischen Bestimmung der Anredbarkeit durch das Wort Gottes die menschliche Bestimmung der Anredbarkeit füreinander und voneinander erschlossen und enthalten. Sie ist der unmittelbare, menschlich zu realisierende, „soziale“ Aspekt von Gerechtigkeit.

[23] Wiederum: Was heißt das? Der Mensch muß in der Kommunikation mit den anderen stehen können. Konkret gesprochen, in unserer Zeit der einswerdenden Welt muß eine universale Kommunikation erstrebt werden. Diese Kommunikation, dieses Gespräch, beschränkt sich indessen nicht aufs Intellektuelle. Nicht nur die geistigen Güter – aber ganz gewiß auch sie – sind für alle da; nicht nur dafür muß gesorgt werden, daß es keine Errungenschaft des Geistes, keinen Anteil am Gespräch der Information und der Bildung geben dürfte, der nicht grundsätzlich Anteil aller, Anteil für alle zu werden vermöchte. Das Gespräch, das die Menschen – nach einem Wort Friedrich Hölderlins – „sind“, umfaßt aber gerade nicht nur, was sie sagen; die eigenen Möglichkeiten, Leben zu gestalten, die Welt und ihre Kräfte auszunutzen, die Zukunft zu planen, müssen das „Und“, müssen die anderen mit einbeziehen, und zwar so, daß sie nicht nur als die Empfänger oder Mitspieler verplant werden in die eigene Konzeption; vielmehr müssen sie in das Gespräch, in die gemeinsame Konzeption mit hineinbezogen werden können als sie selbst, mit ihrem eigenen Anteil. Im Gespräch kann jeder sagen, was er will, aber keinem gehört nur sein Wort, sondern jedem das ganze Gespräch; dies liegt aber gerade als Anspruch und Verantwortung auf dem freien Wort eines jeden, das sich ins Gespräch hineingibt. Gerechtigkeit meint also im umfassenden Sinn die Verwandlung aller bloß determinierten und verhängten Zukunft, aller bloß vereinzelten, isolierten Zukunft von Menschen in die volle Zukunft, in das Gespräch, das alle zu Angeredeten und Mitredenden macht.

Die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft und das „Gespräch“ aller miteinander, in dem sie sich verwirklicht, ergeben ein differenziertes Ineinander von Bindung und Freiheit. Zukunft des Menschen hat fundamental mit Freiheit zu tun. Denn dies ist die Freiheit des Menschen: sich zu seiner Zukunft verantwortlich zu verhalten, sie zu gestalten – im eigentlichen Sinn also Zukunft zu haben; und es ist umgekehrt Wesen der Zukunft als solcher: daß sie auf den zu-kommt, der sich ihr öffnet, der einer ist, bei dem sie anwesend ist, der ihr ins Auge sieht, der ihr Partner, der also zu ihr hin frei ist. Dasselbe Verhältnis der Freiheit gehört zum Gespräch: Nur wo jeder unplanbar und unverfügbar seinen freien Anteil ins Gespräch einbringt, handelt es sich wahrhaft um ein Gespräch. Gemeinsam erstrebte, miteinander füreinander gesuchte Zukunft verlangt aber von der Freiheit der Partner ihre Bindung an die Ordnung und ans gemeinsame Ziel, um es zu erreichen. Zur Freiheit des Gesprächs gehört, sie stützend und gewährend, die Bindung der Partner an die Spielregeln und an die Sache. Diese mehr nur kategorialen – material der Auffüllung bedürftigen und fähigen – Bestimmungen wollen ein Hinweis darauf sein, daß ein Modell der „Gerechtigkeit“, das sich phänomenal an „Zukunft“ und „Gespräch“ orientiert, eine Synthese von Freiheit und Ordnung ermöglicht. Zielloses Nebeneinander einzelner [24] Vorstellungen und Aktivitäten und Verplanung aller Vorstellungen und Aktivitäten sind gleichermaßen ausgeschlossen.

Behauptet und durchgehalten werden muß die Ordnung der Bahnen universaler Kommunikation. Freiheit, der diese Ordnung dient, bedeutet, die eigenen Möglichkeiten entfalten zu können für das Ganze, für alle und selbst Anteil nehmen zu können an den Möglichkeiten des Ganzen und aller. Der Dienst an einer gerechten sozialen Ordnung ist Dienst an der Verwandlung aller Situationen in Situationen möglichen Gesprächs, möglicher Anredbarkeit aller für alle und Dienst an der Sicherung der Bahnen freier und allgemeiner, unbeschränkter Kommunikation.

Von einem solchen Konzept der Gerechtigkeit, die jedem das Seine und darum jedem den Anteil am Ganzen im alle umspannenden Gespräch zu gewähren und zu bewahren sucht, interpretiert sich in etwa auch neu, was Naturrecht in einer katholischen Theorie des Sozialen bedeutet: das Achten auf die Bahnen der wesentlichen Beziehungen, die zu solcher Kommunikation, zu solchem Gespräch gehören; die Würde und Freiheit der Person; die Darstellung dieser Würde und Freiheit in der Sachwelt, ihrer Gestaltung und Nutzung; die Gleichheit der Menschen in der Partnerschaft ihrer wesentlichen Beziehung zueinander; ihre Verpflichtung dem Ganzen gegenüber; die Darstellung auch des Füreinander und Miteinander aller in der Gestaltung und Nutzung der Sachwelt. Dies sind nur einige der Stichworte, die hier zu nennen sind und aus denen sich ein reiches Geflecht unabdingbarer naturrechtlicher Maximen ergibt. Aus ihnen läßt sich ein naturrechtliches Koordinatensystem erstellen, das zwar kein fixes System sämtlicher einzelner Postulate bedeutet, die im Interesse der sozialen Gerechtigkeit zu erheben wären. Doch ist durch dieses Koordinatensystem eine unveräußerliche Ordnung festgelegt im je neuen und unablösbaren Hinblick auf die konkreten Umstände und Gegebenheiten, somit aber auch auf das, was in den Bahnen der Kommunikation geschichtlich geschieht. Das Naturrecht wird somit zum „offenen System“, das nur in dem schon besprochenen „Und“ zur Empirie und zur Geschichte, zutiefst und zuhöchst zur Heilsgeschichte, zur Offenbarung hin für den Christen bündig und schlüssig wird.

Eine weitere Ebene, von der die Bedeutung des „Und“ für das Verständnis des Katholischen im Zusammenhang des Sozialen gesehen werden muß, ist die der Kirche als solcher. Kirche selbst versteht sich in der Folge des Konzils auch in ihrer inneren Struktur immer deutlicher von einem solchen „Und“ her. Sie ist Gemeinschaft der vielen Charismen, die alle vom selben Geist gegeben sind. Gegeben fürs Ganze, gegeben füreinander, gegeben, um im Gespräch des Glaubens und der Liebe das Leben der Kirche zu gestalten. Es genügt nicht, diese vielen Gaben und Dienste des Geistes als einen bloßen Ausfluß der hierarchischen Struktur der Kirche zu betrachten. Es genügt aber auch nicht, eine praestabilierte Harmonie zwischen allen Charismen anzu-[25]nehmen, als ob die Kirche aus der isolierten Entfaltung der einzelnen Gabe und des einzelnen Dienstes „funktionieren“ und leben könnte. Und schließlich genügt es auch nicht, das Miteinander und Zueinander der vielen Charismen durch ein Gesetz des Druckes quantitativer Mehrheit allein regeln zu wollen. Was nottut, ist das konkrete „Und“ eines Gesprächs, in welchem jedes Charisma sich entfaltet im Ganzen, sich aber auch verschenkt ans Ganze, sich relativiert vom Ganzen her. Hierbei hat jedes Charisma auf die Eigenart und Unersetzlichkeit des anderen und seines Dienstes zu achten. In dieser Ordnung der vielen Charismen spielt so das Amt, das in der Nachfolge der apostolischen Sendung steht, eine unersetzliche, Einheit stiftende Rolle. Es kann sich nicht nur als das Ergebnis der Meinung und des Willens aller verstehen, darf aber andererseits auf das Hören der vielen anderen Meinungen und auf das Ernstnehmen der vielen anderen Charismen nicht verzichten.

Das „Und“, in welchem das Leben der Kirche geschieht, beschränkt sich aber gerade nicht aufs Innerkirchliche. Es ist auch das „Und“ des Gesprächs mit der Welt, mit der Welt inner- und außerhalb der Grenzen der Kirche. Gerade in jenen Beziehungen, welche sich auf Welt als Welt erstrecken, und das heißt, gerade auch im sozialen Bereich wäre das „nur“ Katholische nicht ganz katholisch. Die Unaufgebbarkeit des Eigenen, durch welche die Kirche allein auch ein die anderen bereicherndes Wort ins Gespräch aller mit allen hinein zu sagen hat, muß sich verbinden mit dem Ernstnehmen der Partnerschaft der Glieder der Kirche zu allen Stimmen und Kräften der Welt, mit denen es in einer und derselben Gesellschaft zusammenzuleben, ja mit denen es die eine und dieselbe Gesellschaft zu gestalten gilt.

Eingangs wurde auf den eigentümlichen Zwiespalt hingewiesen, den das Wort „katholisch“ – zumindest in seinem Gebrauch – aufweist. Katholisch, so wurde gesagt, heißt allumfassend, aber es besagt zugleich einen Unterschied. Die Frage, ob dieses Wort „katholisch“ im Kontext des Katholisch-Sozialen heute noch seinen Sinn habe, wurde durch einige Hinweise zu beantworten versucht, die sich an das Wort „und“ anschlossen. Es waren Hinweise auf die verschiedenen Ebenen, in welchen das Wort „katholisch“ sich bewähren müßte, um diesen erfragten Sinn behaupten zu können. In der Frage nach den Quellen, aus denen eine katholische Theorie und Praxis des Sozialen erwachsen müßte, um wahrhaft katholisch zu sein, zeigten sich die notwendige Verbindung, das notwendige „Und“ zwischen Naturordnung, Empirie und Offenbarung. In der Frage nach der materialen Zielvorstellung katholischer Theorie des Sozialen wurde versucht, das Wort Gerechtigkeit in einer nicht mehr bloß kausal, sondern final orientierten Betrachtungsweise zu interpretieren. So besteht Gerechtigkeit aber wiederum im „Und“, das die Bahnen eines alle frei lassenden und alle zugleich einander zuordnenden Gesprächs zusammenfügt. Die Frage nach der Weise, wie die Theorie und Pra-[26]xis des Sozialen ihren Ort in der Kirche finden könnten, führte zu dem „Und“ kirchlichen Gesprächs, das sich nach innen als Gespräch der verschiedenen Charismen miteinander, nach außen als Gespräch mit allen Partnern in der Gesellschaft artikuliert. Diese Hinweise wollen nicht mehr bieten als einzelne Ansätze einer Antwort. Sie reichen indessen wohl aus, um zu sehen: Katholisch, verstanden im Sinn eines solchen „Und“, hat in der Verbindung katholisch-sozial auch weiterhin sein Recht und seinen Sinn, weil die wesenhaften Elemente dessen, worum es katholisch-sozialer Bildung immer ging, auch heute nicht vernachlässigt werden können. Allerdings genügt es nicht, sie zu bewahren – sonst wäre Gefahr, daß sie verlorengingen. Mit dem Bewahren Hand in Hand gehen muß auch eine Öffnung, die das Alte in einem neuen Licht zu sehen und es ihm auszusetzen wagt. Deutet man das Wort „katholisch“ im Sinn und Geist dieses „Und“, dann fände freilich in einem solchen „Und“ auch die Spannung zwischen dem Allumfassenden und dem Eingrenzenden ihre Lösung, die eingangs am Wort „katholisch“ in Erscheinung trat.