Heiliges Leben in heutiger Zeit*

Räumlichkeit

Versuchen wir, die spezifische Räumlichkeit heiligen Lebens wiederum in einigen Stichworten anzuvisieren: Welt – Wüste –Wolke – Zwischenraum.

Welt:

Die Heiligen von heute haben es allesamt mit der Welt zu tun. Auch jene, die hinter Klostermauern leben. Heiligkeit besteht, zumal hinter solchen Mauern, nicht in der Flucht, sondern im Ausgesetztsein an das Ganze, in der stellvertretenden Übernahme des Ganzen. Wer sich hineinhält in Gott, wird von ihm hinausgehalten in seine Welt, in jene Welt, für die er seinen eigenen Sohn hingab.

„Welt“ bedeutet dabei jene Andersartigkeit, Eigengesetzlichkeit, Befremdlichkeit von Welt, die es auszuhalten und auszuleiden gilt, damit in ihr jene andere, ursprüngliche Welthaftigkeit als Schöpfung wieder aufleuchte, die weithin verlorenging in der Attitüde schöpferischer Selbstmacht des Menschen. Und Welt bedeutet weiter in diesem Kontext Menschheit, immer dichter miteinander verflochtene, immer mehr sich selber zum Problem werdende Menschheit, die den Menschen sucht und braucht als das Sakrament jener Liebe, die Gott in der Menschwerdung und menschlichen Hingabe seines Sohnes ihr erwies.

Noch kaum einmal war der Raum heiligen Lebens so radikal und umfassend wie heute: die Welt. Zeugnisse dafür: das Entstehen der instituta saecularia, der Weltgemeinschaften geweihten Lebens; aber auch die anderen Wesen und Gestalten, wie evangelische Räte von einzelnen oder in Gruppen mitten in der Welt realisiert werden; schließlich das Wachsen einer Spiritualität von Ehe und Familie, Beruf und Arbeit, welthaftem Dienst.

Wüste:

Es gibt sie draußen aus allem Umtrieb und mitten in ihm. Wüste kann der ausgesparte, leergelassene Bezirk des Daseins und der Welt sein, oder Welt und Gesellschaft selbst geben sich als Wüste zu erfahren. Ausgehaltenes Nichts, angenommene Leere, Ausblenden der tausend umwerbenden und beanspruchenden Eindrücke im Hinhören allein auf die eine Stimme, im Gehen allein längs dem einen Ruf: so verstanden, gehört der Weg durch die Wüste zu schier allen Spielarten eines leidenschaftlichen, mit dem ganzen Leben ergriffenen Suchens nach Gottes Angesicht, eines heiligen Lebens heute also. Solche Wüstenerfahrung fordert und umfaßt alles, was es in der langen Tradition christlichen Lebens an Übung der Stille, der Anbetung, der Selbstprüfung, der Unterscheidung der Geister, der Indifferenz gibt. Doch dies ist nicht mehr nur in sich gültige Übung, sondern hineingerückt in einen heilsgeschichtlichen Kontext, ins biblische Unterwegssein auf ein Morgen zu, auf ein „gelobtes Land“ zu, auf eine „neue Stadt“ zu, die wir nur erreichen, indem wir wie Abraham aufbrechen, wie Mose das Rote Meer durchschreiten, wie die Jünger alles lassen und Jesus folgen.

Wolke:

Nahe verwandt der Erfahrung der Wüste ist jene der Wolke: Hinaufsteigen dorthin, wo der Herr wohnt, bei ihm bleiben, nicht aus der Wolke herausgehen. Dies scheint das Gegenteil von dem zu sein, was in der ersten Ortsbeschreibung, jener der Welt, als typisch gesagt wurde – und doch fällt es damit zusammen. Wer in der Wolke ist, der ist in der Welt. Denn diese Welt ist nur dann nicht pure Zerstreuung, pures Nichts und Nirgends, wenn ich sie dort suche, wo sie ist, beim lebendigen Herrn, der sie in der Hand hält. Und nur der geht ganz hinaus, auch ins äußerste Dunkel dieser Welt, der dort „die Wolke“ findet. Jener, der dort sich nicht angleicht und ausgießt, sondern der in jener ausdauernden, je augenblicklichen Achtsamkeit der Liebe bleibt, wie Er geliebt hat. Jener also, der in jenem Ja Gottes bleibt, das sich nie zurückzieht, nie verbittern läßt, das nie aufgibt und aufhört. Wandeln in Gottes Gegenwart als in der Gegenwart einer nie versiegenden Liebe, auch dann, wenn die Sicht auf den gegenwärtigen Herrn verdunkelt ist, wenn Er und das eigene Ich nicht mehr spürbar sind, Treue im einfachen Bleiben und Dasein – Grunderfahrungen jener, die heute den heiligen Gott mit ihrem Leben suchen.

Diese Wolke gewinnt an einer Stelle immer wieder eine eigentümliche Dichte, in welcher Dunkel und Licht ineinanderfließen, zum Selben werden: in der Eucharistie, im Tabernakel. Dasein bei dem, der da ist, sich hinhalten dem, der sich hinhält, sich anverwandeln seinem völligen Weggegebensein, das so gerade Stand, Identität, Gegenwart bedeutet; vor dem Tabernakel sich umschmelzen lassen vom Ich zum Brot, vom Machen zum Sein, vom Wollen und Mögen zum Lassen und Bleiben: dies heißt in der Wolke wohnen. Und gerade solche Verwandlung ins reine Dasein ist Befähigung zum Einsatz, zum tätigen, gebenden, sich verschwendenden Dienst.

Zwischenraum:

Vielleicht liegt hier indessen die tiefste Raumerfahrung heiligen Lebens heute. So sehr jeweils ich, in aller Unvertretbarkeit, eingefordert bin, heiliges Leben geht nie, wenn ich lebe, als gäbe es mich allein. Die Liebe, die mir gilt, ist unteilbar – es ist seine Liebe zu mir, zum anderen, zu jedem. Und mein Ja, das gewiß kein anderer an meiner Stelle sprechen kann, ist nur dann von mir ganz gesprochen, wenn ich es im Hören auf das Ja der anderen, wenn ich es im Chor spreche, im vielleicht unsichtbaren, aber in hörender Fühlungnahme gleichwohl ertasteten Chor des glaubenden und liebenden Miteinanders.

Heiligkeit gibt es nur im Heiligen Geist, und der Geist hat seinen Raum zwischen Vater und Sohn, zwischen dem Vater und denen, die im Sohne sind. Und sie sind nur im Sohne, wenn sie sich durch den Geist, der zwischen Vater und Sohn ist, einen lassen, so daß der allein Heilige, der Herr, in ihrer Mitte ist.

Das ist keine abstrakte Überlegung, sondern Grunderfahrung heiligen Lebens, die heute ins Licht drängt. Wer nur seine Geistesgabe, nur seinen Ruf sucht, wer nur seiner Linie nachgeht und selbst dabei zum Richter über sich selbst wird, der erliegt der sublimsten Selbsttäuschung. Nur der läßt sich ganz, der sich ins menschliche Mitsein, der sich – wir dürfen es sagen – ins Kirchesein hineinläßt. Ich bin geheiligt durch dieselbe Liebe, die dich heiligt. Und wenn wir diese Liebe annehmen, dann nehmen wir einander an, und nur im Hören aufeinander und miteinander auf den Geist kommt der Herr in unsere Mitte.

So bin ich in meinem Ja zur Welt nicht der Solist meines Einsatzes für andere, sondern Stimme der größeren Liebe. Und um zu solcher Einheit zu kommen, um von mir und von allem dem, was mich an mich bindet, wegzukommen, braucht es wahrlich den Gang durch die Wüste. Dieser Weg aber führt in jene Wolke, die nicht das Einfamilienhaus – oder die von Petrus auf dem Tabor beschworene Ein-Mann-Hütte - ist, in welchen ich meinen Gott für mich allein haben will, sondern Raum, in dem Er sich mir schenkt, so daß ich mich und ihn weiterschenke.

Welt – Wüste – Wolke – Zwischenraum:

Diese räumlichen Momente bedürfen einer Zuordnung, um die Struktur heiligen Lebens sichtbar zu machen. Das Umfassende ist die Wüste, der Raum des Weges, der hinaustreibt in die Welt und hinein in die Wolke. Welt und Wolke sind auf eigentümliche Weise beide zugleich ein entgegengesetztes Draußen und Drinnen. Wer in der Wolke ist, der ist draußen aus dem Gängigen und Zugänglichen; wer in der Welt ist, der ist draußen aus dem Gehäuse des eigenen Ich und seiner privaten Geborgenheit und Beruhigung, in welchen Gott für das Ich allein festgehalten wäre. Wer in der Wolke ist, der ist zugleich drinnen in der Zuwendung zu diesem allein heiligen und allein maßgeblichen Geheimnis Gottes. Und wer in der Welt ist, der ist drinnen in jenem umschließenden und verzehrenden Innenraum der Ansprüche und Erfahrungen, der Dinge und Geschichten, in den sich der Sohn Gottes selber eingegraben hat für ganz und immer – „was er einmal angenommen, das hat er nie mehr losgelassen“.

Unterwegs – drinnen und draußen – und zugleich in einer offenen Geborgenheit, im Zwischenraum des Miteinander. Unterwegs sein, drinnen sein und draußen sein, ekstatisch über sich hinaus gewandt und solidarisch eingelassen in die Wirklichkeit, hineingenommen in den Rhythmus dreifaltigen Lebens, der sich spiegelt und offenbart in der Communio, in der kirchlichen Existenz: so lebt der Heilige, so leben die Heiligen heute. Und so nehmen sie die Angst dieser Welt an und überwinden sie zugleich, jene Angst, die heißt: ortlos werden, den Atemraum verlieren. Gerade in der „unmöglichen“ Position eines heiligen Lebens gewinnt der Mensch Zeit und Raum seines Menschseins zurück.