Die Bedeutung der Kantschen Kritik der Gottesbeweise

Recht und Grenze der Kantschen Kritik der Gottesbeweise*

  1. Diese Kritik stimmt in zweifacher Hinsicht: Wenn Gott als Gegenstand, als seiend, als Was plus Daß und somit vom Zukommen des Seins, unter dem Horizont der Zeit also, vorgestellt wird, dann führt kein Weg sicherbarer Erkenntnis zu ihm. Und wenn Erkenntnis nur als sicherbare, im Sinn exakter Naturwissenschaft verifizierbare Erkenntnis verstanden wird, dann führt Erkenntnis nicht über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus.

  2. Die Begrenztheit der Kantschen Analyse durch ihre immanenten Vorentscheide fiel uns bereits auf. Kant hat das Erkenntnisvermögen in seiner gegenstandsbezogenen Struktur präzise ausgemessen – die weitertreibenden Korrekturen im transzendentalen Idealismus eines Fichte und frühen Schelling dürfen wir hier außer acht lassen. Doch was der Gott Kants als notwendig Existierender zu sich selbst sagt, das muß dieses Erkenntnisvermögen zu sich selber sagen: „Aber woher bin ich denn?“ Es darf, im Sinne Kants, theoretisch diese Frage nicht mehr stellen, es ist sich selbst unerklärbar und unsicherbar zufällig. Doch denken wir zurück an die drei Elemente, die uns der unmittelbare Hinblick auf die Phänomenalität unseres Erkennens erschloß: Das erste war der Zug und Anspruch der Wahrheit: Wie ist es in Wahrheit? Daß der Zug dieser Frage über alles sicherbar Wahre hinausruft, ist freilich auch in Kants Gedanke mächtig. Woher sonst sollte seine bohrende Frage nach der Tragweite menschlichen Erkennens auch aufbrechen als aus dem Anspruch und Drängen der Wahrheit selbst? Als der sein Fragen zeitigende Horizont wird ihm diese beanspruchende und gewährende Wahrheit aber nicht mehr ausdrücklich. Gewiß, sie wird nie zum Datum im Kontext der Feststellbarkeiten, ist nicht exakt sicherbar, ist von ihrem Wesen her mehr denn Wahrheit im Sinne von Sicherbarkeit. Und doch kann sie selbst [109] dem denkenden Achten des Erkennens auf sich selbst als das in ihm gewährende, bemessende und in Gang bringende Absolutum deutlich werden. Die Strukturen, in welchen das Erkennen dann verläuft, bleiben zwar, von außen, von den konstitutiven Elementen seiner Gestalt her, dieselben wie in Kants Analyse. Doch der Sinn, der ihnen hier eignet, sprengt ihre formale Bezogenheit auf Gegenständlichkeit und verwandelt sie selbst vom Begriff zum Verweis.

  3. Solches macht die vordergründige Angreifbarkeit und wesentliche Unangreifbarkeit etwa der thomistischen fünf Wege der Gotteserkenntnis aus, selbst wenn man ihnen formal die geheime Implikation des ontologischen Beweises und so die petitio principii anlasten könnte. Doch nicht umsonst entscheidet sich Thomas (S. th. I q. 2 a. 3 ad 2 und ad 3) dennoch für den Beweis ex effectu gegen den ontologischen, und nicht ohne Grund lehnt er die Möglichkeit des regressus in infinitum ab (vgl. die prima via S. th. I q. 2 a. 3 u. a.). Er weiß, in der lebendigen Substanz seines Gedankens, um jene Zeitlichkeit, die der Erkenntnis von innen her eignet und die allein sie davor bewahrt, Gott unbemerkt „unter“ die Zeit zu setzen.

    Wie Kant sieht Thomas die unmittelbare Richtung des menschlichen Erkennens aufs sinnlich Wahrnehmbare, es ist ihm obiectum proprium menschlicher Erkenntnis. Und wie Kant entdeckt er den konstitutiven Anteil der menschlichen Erkenntniskraft an der Erkenntnis, er erkennt den intellectus agens als faciens intelligibilia in actu (vgl. S. th. I q. 79 a. 3 c. a. und ad 3; q. 79 a. 4 c. a.) Aber dieses facere, diese Spontaneität ist zugleich Vernehmen, ist zugleich Antwort, denn sie ist Bezug auf das intelligibile in potentia, das dem intellectus agens, seine Aktivität rufend, entgegenkommt aus den sensibilia. Seine Aktivität ist gerufene, gezeitigte Aktivität. Woher gezeitigt und gerufen? Indem die menschliche Erkenntniskraft sich aufmacht zu ihrem eigenen Geschäft, zur Erhebung der quidditas rei sensibilis, nimmt sie in ihr und durch sie hindurch doch das Sein als sich gebend, die Wahrheit als beanspruchend, das Gute als Worumwillen und in diesem sub quadam confusione (S. th. I q. 2 a. 1 ad 1 und ad 3) eben den unbedingten Ursprung wahr.

    [110] Und deshalb eben kann sie nicht im Feld der Erfahrung und ihrer immanent möglichen Endlosigkeit stehenbleiben, wenn sie im Raum der Erfahrung anhebend, dem unbedingten Zug ihrer Woher- und Wohinfrage nach-denkt, deswegen gilt ihr: hic non est procedere in infinitum. So übers Seiende hinausgerufen, weiß sie auch, daß sie dem Unbedingten, dessen Spur sie folgt, nicht durch die Vergegenständlichung letztlich gerecht wird, und darum sagt sie von dem Gott, zu dem sie führt: transcendit suprema genera (vgl. S. th. I q. 3 a. 5 c. a.)

  4. Weist also Kants Kritik der Gottesbeweise in der Begrenzung des Ansatzes der Erkenntnis, aus der sie erwächst, uns doch wieder auf die quinque viae des Thomas von Aquin zurück? Ja, sofern dort – bei erstaunlicher Nähe des Wahrgenommenen zu Kants Analyse – das dieser Entgehende, in ihr Vergessene gewußt wird. Und doch ist dieses Ja noch nicht die ganze Antwort. Was wir an Thomas sehen, sah gewiß er selbst. Doch der Grundentscheid, der unselbstverständlich in diesem Sehen waltet, entgeht bei ihm, aus seiner denkgeschichtlichen Stellung notwendig, noch der philosophischen Ausdrücklichkeit, er geschieht sozusagen im Rücken des sich durchsichtigen Denkvorganges.

    So werden wir von Kant zu Thomas zurück, aber doch auch von Kant aus in neue Horizonte des Denkens vorwärts zu gehen haben. In ihnen weiß das „Ich denke“, von dem Kant sagt, daß es alle unsere Vorstellungen müsse begleiten können, sich seinerseits von einer Zeit begleitet, welche es nicht als Schematismus seiner Begriffe entwirft, sondern in welcher es sich selbst als geschichtlich und gesprächshaft gezeitigt verdankt. Dieses Denken, das die Zeit kennt, aus der ihm das Sein und aus der es selbst sich erst gewährt ist, wird dann einer neuen Nähe fähig sein zu Gott, von dem es im Psalm heißt: „Mein Gott bist Du, in Deiner Hand ruht meine Zeit“ (Ps 31, 15b.16a).