Theologie als Nachfolge

Reflektierte Nachfolge: Nerv bonaventuranischen Denkens

Wer nicht von der Sache der Theologie, sondern vom Eigenen Bonaventuras aus einen Vorbegriff seiner Theologie gewinnen will, der kommt unschwer zu ähnlichen Bestimmungen, wie sie sich in unserem Nachdenken ergeben haben. In der Tat, seine Theologie läßt sich als „reflektierte Nachfolge“ begreifen. Bonaventura steht in der Nachfolge des Franziskus, und dieser Franziskus ist für ihn der geschichtlich konkrete Ruf zur Nachfolge Christi selbst. Die beträchtliche Gruppe von Schriften Bonaventuras, die sich unmittelbar mit Franz, seinem Erbe und seinem Orden beschäftigen, erwuchs zwar großenteils aus der konkreten Sorge und Verantwortung für das Geschick der franziskanischen Idee und Bewegung; diese Sorge und Verantwortung sind aber inspiriert von der Leidenschaft für das, worum es bei Franz von Assisi geht, und dies eben ist die Nachfolge Christi, ihre Einholung in die Geschichte, ins persönliche Leben und ins Denken. Die Weise, wie sich das Itinerarium auf die Stigmatisierung des Bruder Franz bezieht, ist kein bloßes Stilmittel, die geschichtstheologische Einschätzung des franziskanischen Zeitalters etwa im Hexaemeron nicht nur eine Spezialität, die mit dem Gesamt seiner Theologie nichts zu tun hätte. Nachfolge, das umfaßt doch vier Momente: zunächst das Vorausgehen des Herrn, dem Nachfolge sich anschließt, sodann die Disposition, die Bereitschaft, den Entschluß, auf seinen Ruf einzugehen; weiter die dynamische Einholung des Weges des Herrn in den eigenen Weg und schließlich das Eingehen in die Lebensge- [30] meinschaft, ja Einheit mit ihm. Im Vorgriff auf unsere Analysen gesagt: diese vier Momente kennzeichnen auch die Gangart bonaventuranischen Denkens. Er betont den Anfang von Seiten Gottes, das Zukommen Gottes auf uns als die Voraussetzung unseres Kommens zu ihm und Denkens über ihn. Zugleich aber fragt er, wie das Denken beschaffen sein müsse, wie der Mensch umkehren und sich erheben müsse aus der Verfangenheit und Verfremdung in sich selbst und der Welt, um sich auf den Weg Gottes zu machen. Er entwickelt in der Folge die Struktur des Denk- und Lebensweges zu Gott als Wiederholung der einen und selben Struktur, die am Handeln Gottes, an seiner Liebe, konkret: am Geheimnis Jesu Christi abzulesen ist; er strebt schließlich hin auf die mystische und eschatologische Einholung, auf jenen Frieden, der für ihn im Friedensgruß des Bruders Franz angesagt und vorgedeutet erscheint.1 So ist das Denken Bonaventuras strukturiert durch das Geschehen der Nachfolge Christi; er radikalisiert dieses Nachfolgegeschehen freilich über den bloßen Bezug zur evangelischen Gestalt Jesu hinaus in einen Welt und Geschichte einbegreifenden Gesamtentwurf.

Sicherlich ließen sich auch andere Stichworte finden, unter denen genauso plausibel das Gesamt der bonaventuranischen Theologie zusammenzufassen wäre. Gerade der eschatologische Friede und die mystische Einigung böten sich hier an – doch sind sie im Sinne Bonaventuras nur, was sie sind, als Ziel jenes Weges, der sich eben als Nachfolge auslegt. Ein anderer, ja der von der Denkgestalt Bonaventuras her am besten greifende Schlüssel für den Raum seiner Theologie und Philosophie liegt in seinem Begriff der ars aeterna:2 Christus in der trinitarischen, schöpfungs- und erlösungstheologischen Mitte und Mittlerstellung ist der eine Inbegriff der Wege Gottes über sich hinaus und der Wege in Gott hinein und somit Ausdruck und Inbegriff der alles umgreifenden „göttlichen Kunst“. Doch diese Kunst läßt sich als solche nur lesen von den Wegen her, die sie miteinander vermittelt, ja die sie eröffnet – und so liegt auch der Schlüssel zur ars aeterna auf dem Weg geschehender Nachfolge. Versucht man, das Denken Bonaventuras von seinem zentralen Motiv her zu verstehen und in seine [31] Einheit zu binden, so erscheint es als die Explikation der Liebe, die Gott in sich selbst und über sich hinaus ist und die ihrerseits Liebe wirkt und zur Liebe ruft. Doch die Dynamik der sich verschenkenden, mitteilenden und in der Antwort einholenden Liebe ist wiederum keine andere als die der Nachfolge. Die zentralen Motive der Liebe, der ars aeterna, der mystischen Einung und des eschatologischen Friedens stehen so im Kontext von Nachfolge, haben in ihr den konkreten Anlaß. In diesem Kontext von Nachfolge werden Liebe als die initiale Kraft, ars aeterna als die einbegreifende Mitte, mystische Einung und eschatologischer Friede als das alles ausrichtende Ziel offenbar und in ihre Position eingesetzt.


  1. Vgl. Itinerarium, Prolog 1. ↩︎

  2. Vgl. M. Wiegels, Logik der Spontaneität. Zum Gedanken der Schöpfung bei Bonaventura (Freiburg i.Br./München 1969). ↩︎