Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Reflexion der Selbstreflexion
Fixieren wir nochmals knapp die Stelle, bis zu der unser Mitdenken mit Schelling bzw. unser Zudenken auf seinen Gedanken gekommen ist.
Das Denken langt in all seinen Bewegungen aus nach dem, was ist, setzt alles, was es denkt, sich gegenüber als sein Anderes, als etwas, das – auf welche Weise auch immer – „ist“, möglich ist, wirklich ist, erdichtet ist, unmöglich ist, nur gedacht ist, „nicht“ ist, jedenfalls in eine Position des „ist“ gesetzt ist einfach dadurch, daß es gedacht ist. Dieses Istsagen des Denkens setzt das, wovon es „ist“ sagt, dem Denken gegenüber und zugleich in es hinein, Gegenübersetzen ist ein Insichsetzen. Darauf wird das Denken aber nur aufmerksam, indem es sich selbst reflektiert, sich selber nachfragt, sich also von seiner unmittelbaren Richtung auf das, was ist, löst, die das, was ist, ihm als das Außen, als das bloß Hinzunehmende und zu Registrierende erscheinen ließ.
[48] Als was erfährt sich so das Denken, erfährt sich das dieses Denken Denkende, die Vernunft? Sie ist Mächtigkeit des Istsagens, die somit alles, was ist, aus sich hervorbringt in die Weise, wie es ist, in das Wesen, was es ist. Vernunft wird zum Setzenden und Einenden dessen, was ist. Sie macht, daß es „ist“, also an sich selbst hervortritt, vors Denken hintritt, ihm gegenübertritt, und macht damit zugleich, daß es ins Denken eintritt, in ihm wohnt, umfangen und gefügt ist mit allem, was ist, in der bergenden Einheit der Vernunft. Setzung und Einigung, Ausstoß und Rücknahme des Seienden sind eines, sind das Denken, sind das Selbstgeschehen der Vernunft.
„Unmittelbar“ ist das Denken bei dem, was es wahrnimmt, wie von außen in sich hineinnimmt. Dieses Hineinnehmen nimmt aber sich selbst, seine Möglichkeiten und bringt sie dem Hineingenommenen entgegen, das Hineingenommene ist schließlich nichts anderes als die Möglichkeit der Vernunft selbst, wird zu ihrem Entworfenen. Die Vernunft kommt dazu, auf sich selbst in dem radikalen Sinne zu blicken, daß sie sich, ihre eigenen Möglichkeiten, nimmt und aus ihnen entwirft und konstruiert, was sein kann. Ihr Denken wird zur aktiven Gegenprobe des scheinbar passiv Erfahrenen, und darin kehrt sich das Verhältnis um: die Erfahrung wird zur Gegenprobe der vorgängigen Vernunftkonstruktion, zu ihrer „Kontrolle“ und Bestätigung1.
Vielleicht zögern wir, von der gewonnenen Basis aus weiter mitzudenken. Denn: das Phänomen, das beobachtet wurde, ist zwar die Gewachsenheit des Denkens allem Begegnenden gegenüber, die Inwendigkeit eines jeden „ist“ im Denken. Aber ist das Phänomen des Denkens damit schon ganz in unseren Blick getreten? Ist also einerseits wirklich ausgewiesen, daß die Vernunft die alleinige und selbstätige Ableitung alles dessen, was ist, sei und leiste? Und umgekehrt: Wird Denken in solchem radikalen Verständnis seiner Ursprünglichkeit nicht gerade verengt auf eine seiner Weisen, auf die des konstituierenden, fassenden, vergegenständlichenden Denkens? Vorläufig genügt es indessen zu sehen:
a) Zumindest in einer Hinsicht ist Vernunft in Wahrheit dies: [49] die Weisen ihres Istsagens hervorzubringen und in ihnen zugleich sich selbst, ihre eigenen Möglichkeiten und deren Zusammenhang aus sich hervorzubringen, und somit aus sich das, was ist, hervorzubringen in das, was es ist.
b) Gerade wenn diese Auslegung des Phänomens Denken es nicht ganz auslegen würde, wäre sie ein unverdächtiger Ausgangspunkt für den nunmehr einzuschlagenden Weg des Denkens, in welchem ihm seine umfassende Alleinigkeit und Selbstursprünglichkeit fraglich wird.
Was also heißt: Vernunft ist das alles, was ist, Setzende und Einbegreifende? Wir sahen schon: Indem sie alles setzt und einbegreift, setzt und vollbringt sie sich. Selbstüberschreitung und Insichbleiben sind ihr eines. Aber es genügt nicht, statisch zu sagen, Selbsttranszendenz und Selbstimmanenz seien identisch. Wenn dies so ist – und dies kann, wofern Denken Denken ist, nicht anders sein –, so ist Denken nur in sich, indem es denkt, also sich überschreitet. Und es überschreitet sich, heißt: es bleibt in sich, bleibt in sich aber so, daß darin etwas mit ihm geschieht, also mit ihm geschieht: Denken bringt sich vor sich selbst.
Dies ist der Schritt schon des jungen Schelling über Kant hinaus: Dort „war die Vernunft nicht zu ihrer Selbständigkeit gelangt, eben weil sie sich auf bloß Gegebenes bezog, und wenn selbst das ganze Erkenntnisvermögen, wie Kant rühmte, richtig ausgemessen, die ganze Einrichtung desselben (wie Kant sich auszudrücken pflegte, als handle es sich von einer Maschine) durchschaut war, weil mit all dieser Einsicht dennoch das Erkenntnisvermögen oder die Vernunft sich selbst unbegreiflich und undurchsichtig geblieben war, indem diese sogenannte Einrichtung wieder nicht aus der Vernunft selbst begriffen, sondern eine von außen gegebene war.“2
Bei Schelling hingegen war der Mechanismus der Vernunft zugeführt in ein Sich-Vollbringen der Vernunft, in jene Bewegung, in welcher sie aus sich geht, um sich in sich zu setzen, um im Denken jenes zu denken, worin sie sich selbst zu sich selbst einholt, sich suchende Helle ihrer selbst und darin Setzung und Einung dessen, was ist. [50] Dem späten Schelling aber widerfährt in dieser Selbstauslegung der Vernunft ihre neue und tiefere Unselbstverständlichkeit, ihre gerade in der totalen Selbstreflexion bleibende, ja aufbrechende Unbegreiflichkeit3. Alles ist notwendig im Geschehen der Vernunft – von daher, daß sie Vernunft ist. Alles in ihrem alldurchmessenden Gang ist Konsequenz ihrer selbst, des Verhältnisses zu sich selbst , das sie ist.
Aber dieses Verhältnis selbst? Warum will sie sich vor sich bringen, warum diese das Insichbleiben vollbringende Selbstüberschreitung? Woher der Stoß der Vernunft ins „vor sich“, diese Richtung auf die Vorstelligkeit, auf die Produktion ihrer selbst , in der sie sich zum Seienden und in der ihr also überhaupt Seiendes wird? Gewiß, sie könnte auch nicht in sich bleiben, wenn sie nicht vor sich ginge, sie hat sich nur, indem sie sich selbst sich vor-stellt4, nur sich aus sich hervorbringend kann sie sich in sich einbringen. Aber warum eben diese zweieine Bewegung über sich hinaus und darin zu sich? Warum nicht unterschiedlose Nichtigkeit und Leere?
Mit einem Gedanken kann auf diese Frage nicht geantwortet werden; denn das Denken ist schon in jener Tiefe seiner selbst eingekehrt , in der es als tätigend, als Vernunft zur Quelle, zur Voraussetzung aller seiner Gedanken geworden ist. Es trägt alle seine Gedanken, was aber trägt , was ermächtigt es selbst?
Die Unbeantwortbarkeit dieser Frage im von sich ausgehenden Denken kann es zu zwei entgegengesetzten Konsequenzen weisen: Entweder zur reinen Entschlossenheit ins „vor sich“, in dem unbegründeten, alles begründen wollenden Kreislauf seiner selbst, seines Aussichgehens und Rückkehrens, in der es sich zum Ring der absoluten Selbstgenügsamkeit schließt, einfach es selber und darin alles ist. Oder aber zur Annahme seiner selbst, dessen, daß es denkt und darin alles setzt und eint; und in dieser Annahme und Übernahme seiner selbst wird gerade seine Alleinigkeit und Allursprünglichkeit ihm zum „Zeugnis“ für ein erstes und unvordenkliches Sichzugekommen-Sein.
[51] Wir skizzieren Schellings Entscheid: Indem Denken, sich selbst nicht tragen und begründen könnend, einfach geschieht, ist nicht nichts, sondern vor dem Denken und in ihm, sich als das Unvordenkliche bekundend, das reine Woher des Denkens, ein „Sein“ oder ein „Daß“ , die gerade in der entgegengesetzten Richtung liegen zu dem Sein und dem Daß, in welche das Denken vor sich geht und sich vollbringt5 : kein Sein, dem das Denken als Ursprung seines Gedachten oder Bedingung seines Erfahrenen zuvorkäme, sondern das reine Zuvorkommen, die reine Voraussetzung selbst. Schelling spricht davon als „von dem, was vor und außer allem Denken ist, also von dem Sein, aber nicht von einem empirischen Sein“, das ja als solches „logische Verstandesbestimmungen an sich hat, ohne die es gar nicht vorstellbar wäre“. Es handelt sich also um das „absolut außer dem Denken befindliche“, um das „schlechterdings transzendente Sein“6.
Gewiß ist im Denken allein die Aussage dieses dem Denken absolut transzendenten Seins möglich, und für Schelling ist Denken, in seiner letzten und höchsten Aufgabe betrachtet, gerade das Unternehmen, dieses „Transzendete“ sich „immanent “ zu machen7. Diese Immanenz kann aber, im Gegensatz zur reflexiven Aufhebung des erfahrenen Seins ins Denken als seine Bedingung, niemals der ursprünglichen Transzendenz durch Reflexion vorausgesetzt werden. Das Denken ist für Schelling diese von sich selbst nicht getragene und begründete Immanenz selbst und als solche gerade Verweis auf und Zeugnis für ihr schlechthin Anderes.
Aus diesem Grund kann Schelling im selben Ductus des Gedankens, in welchem er zum absolut der Vernunft transzendenten Sein zurückstößt, es auch als „erst ihren, erst den ihr insbesondere zukommenden Gegenstand“ bezeichnen , als das „nicht mehr außer Denken (empirisch) sein Könnende“8. Dieses dem Denken so ineins absolut Transzendente und doch am meisten zu Denkende augustinisch gesagt, in der Richtung des „interior intimo meo“9.
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Bes. XIII 61/63. ↩︎
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XIII 57. ↩︎
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Vgl. bes. Philosophie der Offenbarung, 4. bis 8. und 12. Vorlesung im Ganzen. ↩︎
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Das Wort „Vorstellen“ hat bei Schilling indessen meist die umgekehrte Richtung: nicht „sich etwas gegenüberstellen“, sondern „etwas sich vorausstellen“, vgl. XIII 173. ↩︎
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Vgl. hierzu die noch zu erläuternden Passagen der 12. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung, XIII 242/43 und 247. ↩︎
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XIII126/127. ↩︎
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XIII 170. ↩︎
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XIII 148. ↩︎
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Augustinus, Conf. III 6, 11. ↩︎