Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Reflexion des mehrfachen Weges
Die verschiedenen Bahnen, in welchen sich der Ansatz des Begriffes Gottes in der positiven Philosophie denken läßt, kommen darin überein, daß sich der Anfang des Denkens, das reine Daß als seine unvordenkliche Voraussetzung über seine bloße Faktizität und somit: zufällige Notwendigkeit erhebt in die wesentliche, notwendige Notwendigkeit absoluten Geistes, die zugleich und als ein selbes absolute Freiheit bedeutet.
Das „Mittel“, mit welchem dieses im Denken geschieht, ist das Denken selbst und schlechthin, das heißt aber in Schellings Verständnis: es sind die Potenzen, die nun aber nicht mehr aus ihrer eigenen Ursprünglichkeit, sondern als Selbstauslegung des absoluten Geistes, als seine Potenzen verstanden sind, und das heißt, wie noch zu zeigen bleibt: als die gewährleistenden Wirkmächte seiner Freiheit.
Der dargelegte Befund stellt zwei früher entwickelte Thesen unseres Mitdenkens in gegensätzlicher Richtung in Frage: 1. Wir sagten, das absolute Prius des Denkens sei nicht das sich vom Denken vorausgesetzte denkende Denken selbst, sondern das Andere des Denkens, sein im Ganzen und schlechthin ihm Vorgängiges, zu dem das Denken selbst als sein nie von sich selbst zu objektivierender Actus im Verhältnis der Nachträglichkeit, des Zeugnisses steht.
Kann das aufrechterhalten bleiben? Die Selbstreflexion des unvordenklichen Actus durchs Denken, durch die „Möglichkeit“ hindurch auf sein Wesen als absolute Geistigkeit scheint dem zu widersprechen. Das letzte ist nicht undenkliches Daß, sondern die natura necessaria der Freiheit selbst.
Ehe wir diese Frage klären, wollen wir die andere in Frage gestellte These und ihre Fraglichkeit nennen: 2. Wir sagten, das absolute Daß als die unvordenkliche Voraussetzung, auf welche die Potentialität des Denkens führt, stehe in qualitativer Differenz zum göttlichen Gott, es reiche durch seine Angewiesenheit auf das es vermittelnde Auftauchen der Potenz als Potenz von etwas nur bis zu einem „seienden“ Gott und nicht in das sich jedem begreifenden Verfügen entziehende Geheimnis heiliger, [250] auch dem Denken heilig bleibender Anfänglichkeit. Indem nun aber dieses blinde Daß gerade in seiner bleibenden Zufälligkeit offen und Ansatz eines Weges zur natura necessaria, zur reinen Freiheit wird, scheint diese Grenze überschritten.
Die Antwort auf diesen Anschein ist bereits gegeben worden: Die Freiheit bleibt Freiheit durch nicht vermochte, wenn auch gemochte1, ihr zukommende Möglichkeiten, ist Verhältnis zu diesen nicht aus ihr hervorgehenden, sondern ihr zugehenden Möglichkeiten. Sie entrinnt so dem Dilemma nicht, nach welchem der Gott der Metaphysik entweder bloß willkürlich, in schlechter Unbegreifbarkeit Wahrheit setzt oder unter der Vorgegebenheit der ewigen Wahrheiten steht2.
Wird auch das Programm, Freiheit als solche zu denken, nicht eingelöst, weil das Denken seinen Ansatz beim Seienden, beim Etwas-Denken verhaftet bleibt, so tritt doch das Anliegen dieses gleichwohl großen Entwurfes deutlich hervor: Freiheit soll als Freiheit gedacht werden, als Gönnen und Gewähr ihres Anderen3, das heißt aber: Gott soll als Gott gedacht werden.
Darin bewährt die zuerst in Frage gestellte These aber ihr bleibendes Recht. Führt der Entwurf Schellings in seiner faktischen Durchführung denkerisch auch nur bis zum Sich-Erfassen des Denkens als Etwas-Denkens bzw. bis zum Begriff der Freiheit zu etwas, so zielt er doch in seinem Wollen und in der „Ergriffenheit“ des Denkens, die seinen Ansatz bestimmt, über diese Grenze hinaus, er will mehr leisten als nur die Selbstreflexion des Denkens in seine Uneinholbarkeit durch sich selbst hinein. Der Gedanke der natura necessaria, der dem zu widersprechen scheint, indem er auf die Natur des Geistes als solchen geht, bestätigt dies doch, indem es ihm um die Freiheit als unbegreifliche Freiheit über sich hinaus, um die Freiheit zur Beziehung geht.