Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Reines Denken

Unsere unmittelbare Vororientierung an den verschiedenen Weisen des Denkens führte uns auf die Möglichkeit deskriptiver Logik, eines Beschreibens also der im Denken vorgefundenen Bahnen, in denen es verläuft, einfach indem es denkt, die so seiner Willkür entrückt sind und die entsprechend über die immanente Richtigkeit seiner Denkvorgänge entscheiden. Schelling gewahrt nun in der Beobachtung dieser Bahnen des Denkens, die mit dem Denken selbst identisch sind, ein Eines, mit dem sie identisch sind, und mit dem so das Denken identisch ist: „das Seiende“ ist „das, worin die Vernunft sich gefaßt und materialisiert hat, die unmittelbare Idea, d. h. gleichsam Figur und Gestalt der Vernunft selbst“1. Das Denken des Seienden, welches das Denken für Schelling ist, sobald es denkt, die ursprüngliche Deskription des Inhalts der Vernunft bzw. ihrer Tätigkeit, in welcher sie Vernunft ist, des Denkens, die Selbsterfahrung des Denkens ist ihm „reines Denken“.

Dieses reine Denken steht am Anfang der Philosophie, gemäß dem Einsatz des Denkens mit sich selbst, der nichts Äußeres als Instanz oder Quelle heranzieht, gemäß dem Verständnis des Denkens als Ursprünglichkeit also2.

Gleichwohl ist dieses reine Denken gerade nicht bloß formale Logik3. Denn in sich selbst und als es selbst hat das Denken die Hinaussicht aufs Sein. Diese Hinaussicht aufs Sein zeigt bereits im [93] reinen Denken, noch bevor es fragendes Denken wird, in dem Entwurf also, den es als Vorzeichnung in seine Frage je schon mitbringt, eine eigentümliche Doppelung. Denken ist wesenhaft prädikativ, Prädikation aber hat das „Sein“ auf zwei Seiten bei sich: Sie sagt etwas aus – und sie sagt es aus von etwas. Die Aussage setzt ein Sein, eben den Inhalt ihrer Aussage, und sie spricht dieses ausgesagte Sein einem zu, dem es eignet, das somit selbst ist. Das Ausgesagte bestimmt jenes, von dem es ausgesagt ist, doch dieses so vom Ausgesagten Bestimmte ist darin Träger der Aussage, das bloß Ausgesagte ist nicht selbst, sondern ist an dem, was selbst ist. Schelling spricht wiederholt einläßlich von diesem Sachverhalt4.

So wird reines Denken für Schelling zum Entwurf einer universalen Wesensfigur und zum Durchgang durch ihre Wesenbestimmungen auf das „Prinzip“ hin, das einschlußweise – dieses Wort ist im prägnanten Sinn gebraucht, wie der weitere Gedankengang erweisen wird – mitgesetzt ist in der Setzung des Seienden. Alle Prädikate und das Prinzip, das sie trägt, das Seiende und das „das-Seiende-seiende“5: dies ist der Inhalt des reinen Denkens6. Dieses beide zusammen ist, kurz gesagt, der „vollkommene Gegenstand“7. Schelling legt ausdrücklichen Wert auf die Gegenständlichkeit und Dingheit des im reinen Denken Entworfenen, wenn auch der Weg der Philosophie über das reine Denken hinaus alsdann diese unmittelbare Gegenständlichkeit gerade aufhebt, um reine Freiheit zu denken.

Die Gegenständlichkeit des ursprünglich Gedachten, d. h. der Verweis der immanenten Möglichkeiten des Denkens auf einen sie als sein Was anziehenden Akt, worin dieser Akt und jene Möglichkeiten sich als gegenständlich, dinghaft konstituieren: dies ist der Unterschied zwischen dem Seinsbezug des reinen Denkens im Sinne Schellings und dem Seinsbezug der von uns unmittelbar ins Auge gefaßten deskriptiven Logik.

Um auf diese „deskriptive Logik“ zurückzublicken: sie ist nicht eigentlich wie das reine Denken bei Schelling Anfang des Denkens, vielmehr hebt das Denken als Frage an und kommt im Zug des [94] Fragens erst auf die „reinen Strukturen“ seiner selbst zurück. Sie sind im Sinne dieser deskriptiven Logik Instrumentarium des Fragens und in seiner Hand, sie haben in seinem Seinsbezug den ihren und programmieren nicht umgekehrt durch einen der Frage vorgängigen, primär „setzenden“ immanenten Seinsbezug erst die Frage; sie legen somit nicht den Zug des Fragens auf das „an sich“ in ihnen Begreifliche, auf den „Gegenstand“ fest, machen ihn also nicht zum universalen und ursprünglichen Gedankenmodell, wie dies beim reinen Denken geschieht, das seinen Seinsbezug darin hat, daß es setzendes und also sein Gesetztes als das Seiende setzendes Denken ist.

Die Doppelheit des Seinsbezuges, die dem reinen Denken in Schellings Ansatz eignet: Bezug zum Sein als Inhalt und Wesen, Setzen des Seienden also, und Bezug zum „Prinzip“, zum das wesentliche Seiende seienden Selbstseienden, eröffnet zwei mögliche Wege reinen Denkens: Der eine Weg führt durch die Inhalte des Denkens und weist in ihnen auf das selbstseiende Prinzip, das ihnen αἰτία τοῦ εἶναι ist, wie Schelling oftmals sagt8, das als Prinzip aber gerade nur vermittelt dem in seinen Inhalt gewandten Denken inne wird. Der andere Weg ist uns bereits aus der Erörterung der medialen Ursprünglichkeit des Denkens vertraut: er ist nicht eigentlich Weg, sondern unmittelbarer Einsatz des Denkens beim Gedanken des reinen Daß, welcher Gedanke an sich selbst nicht mehr bloßer Gedanke, sondern Wegwendung des Denkens von sich selbst zu seinem reinen „obiectum“ bedeutet9 – Objekt meint hier nicht die denkende Herausstellung des Gedachten ins so beherrschbare Gegenüber“, sondern das dem Denken zuvorkommende und es in die Ekstase seiner Voranfänglichkeit bringende „Entgegen“.

Schelling spricht von der hierherführenden Dimension des reinen Denkens in seiner Explikation des letzteren10 mehr verweisend als entfaltend; denn hier ist das Ziel der Gedankenführung unmittelbar die negative Philosophie, die aus dem in seinen Inhalt, in die Potenz gewandten Denken wächst, während in der Einleitung in [95] die Philosophie der Offenbarung die positive Philosophie angegangen wird, die vom undenklichen Ursprung her und auf ihn zu denkt.

Er macht darauf aufmerksam, daß jenes das-Seiende-seiende (das vom Seienden gefordert wird, weil letzteres an sich selbst gerade nicht ist und doch als Seiendes sein Sein meint) von sich selbst her vor seinem das-Seiende-Sein einfach: ist, getrennt von allem Was und somit von allem sich und also das Seiende setzenden Denken11. Das Seiende zu sein ist ihm ein Hinzukommendes, ein συμβεβηχός12, vor und außer diesem ist es außer allem Begriff, weil außer aller Allgemeinheit, allem Einbegreifen eines Anderen: einfach es selbst, „χωριστόν“, „τόζε τι ὄν“, „οὐ τὶ ὄν“, „ἀλλ’ ἁπλῶς ὄν“13. Die Seele ist hier, in dieser Spitze reinen Denkens, „nicht mehr denkend, sondern (weil alles Allgemeine hinweg) schauend“14

Eine kurze Zwischenbemerkung ist hier am Platze: Wieso ist in Schellings Verständnis Denken als Denken, als Sich-Setzen im Setzen des Seienden, auf „Allgemeines“ bezogen, woher rührt die Allgemeinheit von Denken, Was, Potenz gegenüber dem Ausschluß des Allgemeinen im bloßen Schauen, im Actus, im reinen Daß als solchen? Denken bringt sich vor sich, es schaut sich an, „multipliziert“ sich also einerseits und distanziert anderseits darin seinen Inhalt von sich selbst als denkendes Denken. Das Gedachte ist dasselbe wie das Denken, in dieser Selbigkeit mit sich ist das Denken aber gerade die Ablösung von sich selbst: es wird zur Stimmigkeit „in sich“, die sich wiederholen läßt, zur Figur, die an sich selbst nur sich begreift, so aber gleichgültig wird gegen das und unterscheidbar von dem, was sich in ihr begreift; es wird „allgemein“, das Andere des eben Undenklichen, Unsäglichen, das sich im Denken und Sagen begreift, des so dem Denken und Sagen voraufgehenden, im Sich-Begreifen gerade nicht auf- und ablösbaren Daß.

Das reine Denken führt also an ein zweifaches Ende: Es entwirft einmal eine universale Wesensfigur, es denkt seinen Inhalt, seinen ganzen Inhalt, schlechthin und umgreifend: was ist, eben „das Seiende“, dieses ist „δύναμ τοῦ καθόλου“15, in ihm, in seiner Figur [96] „ist alle Möglichkeit beschlossen (fini)“16 und ist zugleich jenes impliziert, das es ist, das Prinzip. Dieses ist das das-Seiende-seiende aber nur, wenn es nicht nur das das-Seiende-seiende ist, sondern einfach und lauter und vorgängig: ist. So konzipiert das reine Denken zum andern jenes reine Daß, in dem nichts vom Denken ist, das dem Denken also schlechterdings zuvorkommt und gegen das es unmittelbar keine Macht, bei dem es unmittelbar keinen Ansatz – diese ist erst möglich, indem Möglichkeit der Entwicklung hat überhaupt, indem also das Denken einsetzt mit seiner denkenden Frage, was das sei17, und das heißt für Schelling: mit dem Setzen des Seienden.

Das reine Denken ist am Ende seiner, ja aller Möglichkeit mit dem Setzen des Seienden, es meint aber in diesem Setzen nicht das Seiende als Möglichkeit, sondern jenes, welches das Seiende ist, nicht den Begriff, sondern was sich in ihm begreift und so ihm gerade zuvorkommt, in ihm sich nicht erschöpft. Das reine Denken ist zugleich nochmals am Ende: indem es den „umgekehrten Begriff“ denkt, jenes, was es meint, das reine Daß, das reine „Objekt“, das „Prinzip“, von dem es aber als Denken nicht unmittelbar ausgehen, das es nicht unmittelbar zum Prinzip haben kann, weil es als Denken je von sich ausgeht18, und so sein es als Denken entfaltender Weg der Weg zum „Seienden“ ist.

Dem reinen Denken wird hier sein eigenes Wollen klar: es will sich, es will denken, will begreifen, aber indem es sich will, indem es denken und begreifen will, will es sein Anderes, will es jenes denken und begreifen, das dem bloßen Denken und Begreifen entgeht und in dem doch alles Denken und Begreifen Grund, Halt und Erfüllung findet. So ist im Ende des reinen Denkens und in dem an diesem Ende offenbaren Wollen des reinen Denkens diesem das Programm umrissen, das es jenseits seiner selbst, in den anderen Grundweisen des Denkens, durchzuführen hat. Sie werden einem Denken, das mit dem Setzen des Seienden anhebt, die aporetische Konsequenz dieses Einsatzes.

[97] Das Seiende ist in sich selbst der „Begriff“ der gesamten Bewegung. Denken will sich, heißt: Denken will das Seiende, denn dieses ist ja die unmittelbare Selbstvorstelligkeit des Denkens. Denken will mehr als nur sich, heißt wiederum: Denken will das Seiende. Denn als das Seiende ist es nach vorn der Überschuß des Denkens übers Denken, es ist ja die Selbst vor stelligkeit, das immanente „Mehr“ des Denkens, und es ist zumal nach rückwärts der Verweis aufs das-Seiende-seiende, aufs Prinzip, ohne welches das Seiende bloßer „Entwurf“, bloße „Figur“ wäre19. Das Seiende ist die Grenze des reinen Denkens, denn mehr als das Seiende, mehr als das universale Was vermag das Denken aus sich allein nicht, und weil es nur das Seiende vermag, ist dem Denken der unvermittelte Ausgang vom Prinzip, vom reinen Daß nicht möglich. Das Seiende und also das Denken sind das zum reinen Daß nur Hinzugekommene, das20; die Aufgabe des Denkens über seine unmittelbare Reinheit hinaus ist demnach die Vermittlung seiner selbst und also des Seienden mit dem Prinzip, das Begreifen dieser seiner Vermittlung als Selbstvermittlung des Prinzips, welches sein oupßeßnx6c als die Möglichkeit seiner Freiheit an sich nimmt, es darin vollendet und erhebt und sich selbst davon befreit, bloße Verschlossenheit in sich als ins dunkle und stumme Daß zu sein.

Während einer deskriptiven Logik im Sinne unserer Vorüberlegung kein Programm erwächst, das jenseits ihrer selbst auszuführen wäre, sondern sie ihre Aufgabe vom fragenden Denken zugewiesen erhält, selbst aber kein System aus sich heraus vorentwirft, birgt Schellings vom Seienden und von seiner prädikativen Funktion verstandenes reines Denken den Vorbegriff eines universalen Systems auf die angedeutete Weise bereits in sich.

Ehe dieses Programm, das dem reinen Denken aus seinem Einsatz mit dem Setzen des Seienden zufällt, aus sich selbst in seine Konsequenz und somit in die anderen Ebenen des Denkens hinein ausgeführt wird, stellen wir, wie angekündigt, die Frage: Wie verändert das Verständnis des Denkens als Setzens des Seienden unmittelbar diese anderen von uns bereits anvisierten Grundweisen?


  1. XI 375. ↩︎

  2. Vgl. XI 263/67, 281/82, 295 Anm., 375. ↩︎

  3. Vgl. z. B. XI 295 Anm. ↩︎

  4. Vgl. z. B. XI 291/92, 313/14, 318, 331, 345, 363, 378/79. ↩︎

  5. XI 313. ↩︎

  6. XI 362/63. ↩︎

  7. XI 360, vgl. auch 361. ↩︎

  8. vgl. z. B. XI 313, 362, 586, XIII 174. ↩︎

  9. vgl. XIII 162. ↩︎

  10. Vgl. Philosophie der Mythologie, 13. bis 15. Vorlesung. ↩︎

  11. Vgl. XI 313–316. ↩︎

  12. 314. ↩︎

  13. Ebd., dort auch die aristotelischen Fundstellen. ↩︎

  14. 316. ↩︎

  15. 315. ↩︎

  16. 313. ↩︎

  17. XIII 173. ↩︎

  18. Vgl. XI 363–365, 366/67. ↩︎

  19. XI 313. ↩︎

  20. Vgl. auch XI 314. ↩︎