Was heißt Glaubenssituation

Relevanz für die faktische Glaubenssituation

Die theologischen Implikationen von Glaubenssituation haben nicht nur Einfluß auf das Programm einer empirischen Untersuchung, sondern sie müssen auch für die Deutung ihres Ergebnisses in Anschlag gebracht werden. Blickt man auf die gegebene Glaubenssituation und auf die Weise, wie ihre allgemein oder doch gängig [38] anerkannten Daten gewertet werden, so legen sich nachfolgende Bemerkungen nahe. Sie erwachsen nicht aus der direkten Aufarbeitung des empirischen Materials, sondern nehmen auf dieses nur einen globalen Bezug; sie machen aber die Verbindungslinien zwischen dem theologisch Grundsätzlichen und dem faktischen Befund sichtbar.

  1. Theologisch wäre es eine Verkennung des Glaubens als Glaube, wenn er mit seiner gesellschaftlichen Effektivität und wenn seine Chancen und Schwierigkeiten mit seinen feststellbaren Bedingungen in der Gesellschaft einfachhin gleichgesetzt würden. Es ist dem christlichen Glauben spezifisch, seine Zuversicht – auch für sein geschichtliches Geschick – nicht auf immanente Wahrscheinlichkeiten zu gründen, darum aber seine wesenhafte Wehrlosigkeit und Ohnmacht zu riskieren.

  2. Es wäre aber nicht minder eine ideologische Verkürzung des Glaubens, wenn ihm seine gesellschaftliche Relevanz, wenn ihm die Ruf- und Reichweite seiner Botschaft zum Menschen und zu seinen geschichtlichen Möglichkeiten gleichgültig wären. Gnade und Freiheit erschöpfen sich nicht in ihrem äußeren Kontext, sind aber auf ihn verwiesen. Glaube hat seine Geschichte nicht nur aus dem Gespräch mit dem Herrn und aus dem Gespräch der Glaubenden miteinander; denn das Gespräch des Glaubenden mit dem Herrn und das Gespräch der Glaubenden miteinander verstehen sich selbst nur recht, wenn Glaube auch im Gespräch mit der Welt und mit der Gesellschaft im ganzen steht. Gespräch bedeutet nicht nur Apologie und nicht nur Anpassung, sondern Einbringen des Eigenen in die Perspektive des anderen, Einbringen des anderen in die Perspektive des Eigenen.

  3. Die Alternative zwischen Volkskirche und Entscheidungskirche ist, abstrakt und absolut angesetzt, falsch. Glaube ist je mehr als seine Residuen in Sitte, Gewohnheit, Kultur und allgemeinem Bewußtsein. Da er aber in der Gesellschaft und in der Geschichte steht und nicht neben ihnen, wirkt er in die Gesellschaft hinein und wirkt seine eigene Wirkung auf die Gesellschaft auf ihn selbst zurück. Gewiß kann dies bis zu einem Ausmaß und in einer Weise geschehen, daß die Unselbstverständlichkeit des Glaubens verdunkelt wird. Es wäre daher falsch, darüber zu klagen, daß Glaube heute wieder genötigt ist, seiner Unselbstverständlichkeit innezusein. Es wäre aber auch falsch, die Einwurzelung des Glaubens in Gewohnheit und Herkommen künstlich auszumerzen. Dies bedeutete eine Verkennung der Grundsituation menschlicher Freiheit, die nicht abstrakte Freiheit von Vorurteilen, sondern ihre Aufarbeitung bedeutet. Zunehmende „Verwandlung“ der Volkskirchlichkeit durch innere Transparenz der Glaubensentscheidung: ja – Versuch der radikalen Eliminierung jeglicher Volkskirchlichkeit: nein.

  4. Die konkrete Glaubenssituation zeigt, allgemein zugegeben, folgende Symptome: Nicht nur die Selbstverständlichkeit, sondern sogar die Verständlichkeit des Glaubens nimmt in unserer Gesellschaft ab. Die Anpassung an überkommene, vom Glauben geprägte Verhaltensmuster bedeutet nicht mehr Anpassung an Erwartung und Trend der Gesellschaft. Das Christliche tritt aus seiner gesellschaftlichen Dominanz zurück in die plurale Konkurrenz von Weltanschauungen. Hier stehen vor allem folgende Probleme zur geistigen Durchdringung und Aufarbeitung an: a) Eine reflexiv umfassende Deutung des Daseinssinnes erhält heute den Charakter der Zusätzlichkeit zum faktisch umfassenden System des Funktionierens. Die Klammer der Gesellschaft ist die Verwiesenheit aller an alle um jenes ungestörten [39] Funktionierens willen, das den Anteil aller an Konsum, Sicherheit und relativer Freiheit gewährleistet. Wie man das Ganze versteht, was es bedeutet, verliert an vordergründigem Interesse gegenüber dem Bedürfnis, sich dem Ganzen einzupassen, einfach mit von der Partie zu sein. b) Daraus resultiert die Möglichkeit einer bloß partiellen Identifikation mit dem Glauben oder der Überzeugung, zu denen man sich bekennt. Sinndeutung als „Daseinsverzierung“ erhält den Charakter des kombinierbaren Angebots. Jeder kann sich aus den vielerlei Angeboten von Sonn das heraussuchen, was ihm gerade entspricht. Die Totalität, Universalität und innere Einheit des christlichen Glaubens werden so verschattet. c) Wo Funktionalität zum Maß des Daseins wird, verliert das Verständnis für eine sich nicht im Funktionalen erschöpfende Autorität und die Bereitschaft zur Übernahme sich nicht funktional ausweisender Forderungen und Angebote an existentieller Basis. Hieraus resultiert eine Krise der kirchlichen Autorität und der von ihr verkündeten Normen des Glaubens und Handelns. d) Die immer größere Transparenz der Gesellschaft und aller Lebensvorgänge durch wachsende Information und Rationalisierung ist – wenigstens partiell – nur eine scheinbare, da die faktischen Anpassungen an vorgegebene Denk- und Verhaltensmuster bei der unentwirrbaren Fülle der auf den Menschen einstürmenden Eindrücke ihrerseits nicht mehr durchschaut werden. Die Abneidung gegen das globale „Vorurteil“, das in der Identifikation mit einer Institution wie der Kirche vermutet wird, verdrängt das Bewußtsein, daß jener viele und in sich undeutliche Vorurteile übernimmt, der in unserer komplizierten Gesellschaft scheinbar nur seinem eigenen Urteil folgt. e) Die Allmacht der Funktionalität läßt es indessen immer verbreiteter zu Isolation, Überdruß, Angst und Unzufriedenheit gegen eine anonyme „Gewalt“ kommen, die weithin mit dem „System“ oder einzelnen gesellschaftlichen Institutionen (auch Kirche und kirchlichen Institutionen) identifiziert wird. Die Dysfunktionalität der totalen Funktionalität wird offenbar. Das begünstigt einerseits einen neuen Aufbruch der Sinnfrage, andererseits den Ausbruch ins Weltlose, in den Traum und Rausch, einerseits das Aufkommen neuer religiöser und parareligiöser Bewegungen und Formen, andererseits den totalen Protest und die Verweigerung jeglicher Norm- und Erwartenserfüllung. Die Situation, die zur Analyse drängt, verändert sich unter der Hand. Glaubenssituation ist – im Grunde stets – Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Situationen. Dies gründet in der Selbstveränderung der Situation als einer solchen: sie wirkt auf den, dessen Situation sie ist, und auf seine Spontaneität wirkend, von ihm her auf sich selbst verändernd zurück. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Glaubenssituationen war geschichtlich selten so scharf ausgeprägt wie heute. Sie füreinander offenzuhalten und miteinander in Kommunikation zu bringen ist eine der schwierigsten und vordringlichsten Aufgaben in unserer Situation.