Das Heilige und das Schöne
Religiöse Kunst: direkte Zeugenschaft für das Heilige*
Der Unterschied von schön und heilig innerhalb ihrer Zusammengehörigkeit läßt uns die Frage nach der sakralen Kunst stellen. Die vertikale Richtungsdifferenz des Heiligen und Schönen eröffnet die Möglichkeit horizontalen Vergleichens zwischen Kunst als solcher und sakraler Kunst. Gibt es innerhalb der Kunst eine Weise der Koinzidenz von Gestalt und Ereignis, die mit Recht sakral genannt werden kann?
Zunächst soll indessen geklärt werden, was sakrale Kunst nicht heißen kann:
Sie kann nicht heißen: Kunst mit religiöser Thematik.
Sie kann auch nicht heißen: religiöse Kunst im Sinn zeugnisstarker Kunst, insofern sich in ihr als Kunst das Heilige als heilig eröffnet.
[260] Sie kann erst recht nicht heißen: durch fixe Stilelemente und einen Kanon äußerer Regeln bestimmte Kunst.
Letzteres versteht sich am leichtesten aus dem bereits Gesagten. Wenn Sakrales mit dem Heiligen zu tun haben, nicht dessen Perversion sein soll, dann kann ihm ein Zugriff durch die Gestalt am wenigsten gerecht werden. Denn Stil als reflexives Übergewicht der Gestalt über das Ereignis ist der Widerspruch zum ermittelten Charakter des Heiligen, dem Schmelzen der Gestalt in den reinen Aufgang des Entzogenen. Doch so wird sakrale Kunst weithin mißverstanden: als stilisierter Stil, als durch vorgegebenen Formenvorrat der Gestalten eingeengte Ursprünglichkeit des Gestaltens. Wenn es sakrale Kunst in Wahrheit gibt, kann sie ihre Sakralität nicht durch im voraus festlegbare Stilelemente erweisen.
Auch das zuerst genannte Mißverständnis klärt sich leicht auf: Sakrale Kunst kann nicht heißen Kunst mit religiöser Thematik. Denn religiöse Thematik meint: Im Leben der Menschen aufgestiegene Sinnfiguren, Begebenheiten, Texte, in denen sich ihr Bezug zum Heiligen geschichtlich verfaßt hat.
Die Kunst, das Schöne, hat einen transzendentalen Bezug zur Gestalt. Jede vorkommende Gestalt kann im künstlerischen Wahrnehmen und Gestalten ergriffen werden und zur neuen, ereigneten Gestalt des Kunstwerkes gerinnen. Alles, das Banale und das unter Menschen Heiliggehaltene, ist mögliches Worin und Woraus, möglicher Vor-wurf bzw. Vor-gabe künstlerischen Gestaltens. Doch damit ist keineswegs schon vorentschieden, ob dieser Vorwurf als banal oder als heilig in das Ereignis der künstlerischen Gestalt eintritt. Zum Unselbstverständlichen, welches das Schöne und die Kunst auszeichnet, gehört gerade auch die mögliche – im Grund durchgängig wirkliche – Differenz zwischen Vorwurf und ereigneter Gestalt des Kunstwerkes. Ohne diese Differenz wäre auch die Entsprechung zwischen beiden nicht als wunderbar und bedeutsam möglich.
Am meisten der Erläuterung bedarf indessen der behauptete Unterschied zwischen religiöser und sakraler Kunst. Diese Frage kann uns zur Klärung von Wesen und Möglichkeit sakraler Kunst führen. Was kann religiöse Kunst heißen, wenn sie eben nicht als Kunst mit religiöser Thematik zu verstehen ist oder als Kunst privat religiöser Künstler, ohne daß ihr persönlicher Bezug zum Heiligen selbst zur [261] Gestalt käme? Religiöse Kunst – so formulierten wir bereits – meint zeugnisstarke Kunst, in der als Kunst sich das Heilige als heilig eröffnet.
Das Schöne ist das Drängen des Entzogenen in die Gestalt; die Gestalt als solche und der Aufgang des Entzogenen in und aus ihr sind Kunst als Kunst. Weil das Entzogene, das Unselbstverständliche immer jenes Geheimnis des Seins ist, das zu sich ruft und im Konkreten über sich hinaus in die Begegnung mit ihm ruft, ist alle Kunst dem Heiligen zugetraut. Der „heilige“ Charakter aller Kunst trifft jedoch im ausgezeichneten Sinne dort zu, wo das Hinweg und Empor, das in der künstlerischen Gestalt aufbrechen kann, nicht nur indirekt widerfährt, sondern wo die Gestalt in der direkten Freigabe ihrer selbst zum kraftvollen Verweis auf das heilige Geheimnis wird.
Das kann und wird oft in der Gestaltung religiöser Thematik geschehen. Doch auch der „neutrale“ Gegenstand oder die „reine“ Form sind solch direkter Zeugenschaft fähig. Sie wird normalerweise bewußt und aus dem lebendigen Vollzug des Künstlers heraus geschehen. Das Heilige kann sich aber auch in seiner Anschaulichkeit dem Künstler selbst entziehen – eben derart, daß er es mit gesellschaftlichen, geschichtlichen Gestalten bzw. seinem Verständnis dieser Gestalten identifiziert und sich von ihnen absetzt, so aber gerade eine ursprünglichere Ergriffenheit vom Heiligen artikuliert.
Versuchen wir den Unterschied des heiligen Charakters aller Kunst von religiöser Kunst noch präziser zu fassen. Die indirekte Mächtigkeit des Heiligen in der Kunst waltet auf die Weise des Spiels, das der Gestalt als solcher und dem wunderbaren Sinn als solchem zugewandt geschieht, Spiel, das in die Unmittelbarkeit des Spielens das Wunderbare in seine Gestalt hineinspielt. Die direkte Zeugenschaft geschieht aus einer Ergriffenheit vom Unsäglichen, die als solche den Künstler zur Gestalt drängt, so daß sein Wollen, besser: das immanente Wollen seines gestaltenden Vollzugs einerseits die Gestalt will, andererseits in dieser Gestalt die Mitteilung des Unsäglichen will, das zur Gestalt immer unproportional und doch dem gestaltenden Vollzug offen ist. Solches Wollen besagt keine das Spiel verderbende Willentlichkeit, sondern eine innere, aus dem Ergriffensein vom Wunderbaren sich von selbst erzeugende Entschiedenheit und Eindeutigkeit, der es um die Gestalt, in der [262] Gestalt aber um das Zeugnis geht. Man könnte hier von bekennender Kunst sprechen. Gestaltendes Spiel, in dem sich das Wunderbare zur Gestalt bringt: dies ist alle Kunst. Ergriffenheit vom Wunderbaren, die sich in die Gestalt hinein bezeugt und in ihr mitteilt: dies verstehen wir unter religiöser Kunst.
Gibt es Kriterien für sie? Gewiß. Aber sie erschließen sich nicht einer neutral-objektivierenden, ästhetisch-wissenschaftlichen Betrachtung. Unverbindliches Mitspielen genügt nicht. Allein der Ernst des Mitgehens mit dem Kunstwerk in alle Dimensionen, ins Ganze, das sich in ihm verfaßt, Mitgehen nicht nur mit der Gestalt bis ans Ende der Gestalt, sondern mit ihrem Verweis über dieses Ende hinaus kann religiöse Kunst angemessen wahrnehmen. Ihre Abschattung im Objektiven, Feststellbaren ist vielleicht am ehesten mit der Formel getroffen: Koinzidenz von Einsatz und Verzicht der Mittel bzw. von Leidenschaft und Scheu des Vollzugs der Gestaltung.