Die Zukunft der Zukunft

Religion und Zukunft

Stoßen wir nicht hier an den Grund, warum auch Religion nicht sterben kann? Der Mensch lebt nicht nur von Faktoren, die er ausrechnen kann. Er lebt vom unverfügbaren, unselbstverständlichen Zukommen der Zeit, er lebt von der Gabe und lebt in der Gefahr. Wem einmal die Zeit so begegnet und wer sich dann einfach überläßt und annimmt, wagt und zurücknimmt, der wird – auch wenn er gar nicht genau weiß, was das heißt – auf irgendeine Weise „fromm“. Er ist betroffen und fasziniert von einem Geheimnis, von dem her er allererst wirklich ist und das sich nie seinem Zugriff gibt. Solches „Frommsein“ hat freilich unterschiedliche Gestalten. Denn diesem Geheimnis gegenüber hat der Mensch immer noch oder gar allererst die Möglichkeit zu denken und zu sprechen; was sich ihm entzieht, was alle seine Erfahrung sprengt, das geht ihn an, das geht hinein in sein Jetzt und also doch in den Horizont seiner Erfahrung. So geschieht Religion ursprünglich in der Überwältigung vom Unsäglichen, aus dem Untergang und Aufgang, Abbruch und Weitergehen eintreffen. Und doch haben zugleich auch die Religion und das Gottesbild ihre Gestalt und darum ihre Geschichte. Erinnern wir uns nochmals kurz unseres Blickes in die Geschichte der Zukunft. Den unterschiedlichen Ansätzen von Zukunft entspricht auch jeweils ein Ansatz, Gott, das Geheimnis, das Zukunft gewährt, zu verstehen. Einem Denken, das ansetzt bei der Physis, aber auch einem Denken, das sich auf den Ursprung zurückbezieht durch die Traditio, und auf andere Weise selbst und gerade dem neuzeitlichen Denken der Selbstsetzung und Selbstvermittlung entspricht das Leitmotiv der causa, der Ursache. Gott ist der Frühere, er ist schon immer. Zeit – endlich oder endlos gedacht – wird Nachzeit Gottes. Und so wird zugleich, in der hier nicht auszufaltenden Konsequenz, Zeit zur Nachzeit ihrer Vorzeit, Zukunft zur Nachgeschichte ihrer Vorgeschichte. Wenn – [42] aus solcher Grundstellung – ich in meine Zeit, in meine Zukunft hineinlebe, dann steht der „kausale“ Gott mir im Rücken, ich lebe in der Fluchtlinie: von ihm her auf die Zukunft zu, die meine Herkunft nach vorne hin verlängert. Gerade in der neuzeitlichen Position eines Gottes, den ich brauche zur Ergänzung und Erklärung, zum Supplement meiner noch nicht ganz in sich selber gegründeten Ursächlichkeit, wird dieser Ursache-Gott fraglich. Ist er Gewähr der Zukunft oder potenziert sich in ihm nicht jene Unheimlichkeit des Menschen für sich selbst, der, wenn er zur Allursache wird, sich seine eigene Zukunft wegnimmt? Wo der Grund der Zukunft mir nur vorausgeht, wo er mir nur im Rücken steht, da ist Zukunft eigentlich nur noch Vollstreckung, da ist sie in der Tat: gelaufen. Ist nicht eine radikale Wende des Denkens erforderlich, und legt nicht die Phänomenalität einer Zeit, in welcher Zukunft aus Zukunft kommt, eine solche Wende auch für das Gottesbild nahe? Sind wir mit dem Gott der Neuzeit vielleicht deshalb in Not geraten, weil die Ansätze in Not geraten sind, die uns ihn so und nicht anders denken ließen? Wo liegen Fährten, wie Gott zu denken ist, heute zu denken ist, da Zukunft radikal fraglich, aber vielleicht aus dieser radikalen Fraglichkeit in einem anderen und neuen Sinn möglich ist?

Greifen wir einfach auf den alten, ehrwürdigen Gottesnamen Jahwe zurück: Ich werde sein, der ich sein werde, „Ich bin der ich-bin-da“ (Ex 3,14). Auf die Frage des Mose, wer er sei, verweist Gott nicht auf sich als Herkunft, sondern auf sich als Zukunft. Es wird weitergehen, denn Ich werde da sein. Und das bin Ich, daß ich da sein werde. Wenn du weitergehst, wirst du je Mich finden. Dieses Weitergehen, das ihn im Weitergehen findet, ist Ruf und Bestimmung Israels. Der Gott, von dem je neu Zukunft kommt, und zwar so, daß wir den Mut haben können, ins Dunkel hinein weiterzugehen: das ist Israels Gott. Lesen wir die Botschaft von ihm, lesen wir das Alte Testament im ganzen von hier aus, so wird diese Botschaft, so wird ihr Gott für uns je neu, je überraschend sein. Gott ist Ursprung, ist Anfang, aber nicht sozusagen vom Rücken her, aus bloßer Vorzeit, sondern er steht uns vor Augen, Zeit entspringt aus seinem Antlitz auf uns zu, aus seinem Antlitz, das uns je voraus ist und uns je neu sich zuwendet. Sicher, sein Handeln geschieht von Anfang an, und alle Zeit, die schon verlief, entspringt seinem Antlitz, seiner Zuwendung. Aber als der Schöpfergott wird er offenbar, indem er der Bundesgott ist, meine Vorgeschichte wird mir geschenkt aus meiner Geschichte mit ihm. Ich bin verpflichtet auf diese Vorgeschichte, aber ich bin auf sie verpflichtet, weil ich verpflichtet bin auf ihn. Meine Herkunft kommt aus seiner Zukunft, besser: aus Ihm als meiner Zukunft. Gedächtnis ist unerläßlich, aber es ist Gedächtnis dessen, der jetzt an mich denkt. Die Gottesfinsternis, die in seinen Schoß zurückgezogene Hand Gottes, sein Schweigen erfordern Treue zu seiner Treue, diese Treue aber ist Voraussicht, Harren auf ihn, der sich zusagt, der handeln wird: Ich werde da sein, Ich bin der Ich-bin-da.

Sicher, wir müssen planen, aber unser Planen ist nur ein Angebot, eine Hypothese; das „reale“ Vermögen ist nicht das Planen, sondern das Vertrauen. Wer Ihm vertraut, wird nicht zuschanden. Zukunft ist zugesagt – und sie ist darin zugleich offen. Also ist Zukunft möglich, hat Zukunft Zukunft.

Es bleibt freilich eine ungeheuerliche Spannung. In diesem Miteinander des Gottes, der da sein wird, mit dem Menschen, der sich ihm anvertraut und ihm folgt, waltet ein lastendes Übergewicht dieses Gottes. Ich bin ihm gegenüber, auf mich allein gestellt. Werde ich ihm entsprechen? Werde ich seiner Treue treu sein? Zermalmt mich nicht diese Partnerschaft mit dem, der zu groß ist für mich? Ich kann ohne ihn nicht leben – aber kann ich wahrhaft leben mit ihm?