Gerettetes Wort – rettendes Wort
Rettung der Worte
Wie aber können von diesem rettenden Wort her unsere menschlichen Worte gerettet werden? Diese Frage ist durchaus auch und sogar zunächst anthropologisch gemeint, gegenwärtig, im Blick auf unser alltägliches und öffentliches Sprechen. Möglichkeit der Sprache allein von einem Ermächtigenden, Tragenden, Zukunft Gewährenden her, das nicht in einer verschlossenen Sprachwelt bleibt, sondern das Geschehen unserer Existenz, ihrer Bezüge miteinschließt – dieses an der Incarnatio Verbi abgelesene Postulat hat seine Plausibilität über den Kreis jener hinaus, die sich ausdrücklich auf den Glauben an die Menschwerdung einlassen. Die Glaubenden freilich sind gerufen, die ersten und unerbittlichen Anwälte des Wortes zu sein.
Versuchen wir, in vier Sätzen einen Weg zu ertasten, wie die Befähigung und Ermächtigung zum verbum naturaliter propheticum wieder geweckt, gefährdetes Wort gerettet, verdorbenes geheilt werden kann. Diese vier Sätze sind abgelesen an der Inkarnation des göttlichen Wortes, weisen uns jedoch ein in den naturalen Umgang mit dem menschlichen Wort.
Die vier Sätze entstehen, indem „Wort“ auf zwei andere Größen korreliert wird: auf „Schweigen“ und „Leben“. Diese beiden Größen, Schweigen und Leben, sind in unterschiedlicher Richtung Gegensätze zum Wort, zum Reden. Das Gegenteil von Reden ist eben Schweigen. Nicht das Gegenteil, wohl aber das Andere bloßen Wortes ist das Leben, Wort soll sein Anderes, das Leben ausdrücken, enthalten, in Gang bringen, Leben soll im Wort sich fassen, finden, mitteilen. Leben und Wort brauchen sich gegenseitig. Doch ein solches, gegenseitiges Sich-Brauchen kennzeichnet auch das Verhältnis zwischen Wort und Schweigen. Wer nicht schweigen kann, kann auch nicht im Ernst reden; wer nicht reden kann, kann nicht schweigen, sondern ist stumm. Das Wort ist die innere Qualifikation des Schweigens, das in ihm heranwachsende Ziel; Schweigen ist die Qualifikation des Wortes, sein Grund, aus dem es wächst.
- Satz: Wort wird Schweigen.
Das Äußerste der Inkarnation, das Äußerste der Selbstaussage Gottes geschieht dort, wo er sich, wo er das Wort, das selber Gott ist, hineinhält und hineinsagt in die Gemeinschaft mit unserem Tod. Dort, wo das Wort Gottes sich ganz verschweigt in die reine Gemeinschaft mit uns, mit dem schuldig gewordenen, dem Tod preisgegebenen Menschen, dort sagt das Wort das Tiefste von sich selbst und das Tiefste von uns.
Muß nicht alles, was wir sagen „können“, still werden in jenes Nicht, in jenes rein hörende Aushalten, damit es enthält, was es sagt, und erreicht, wen es meint? Umkehr zum Wort muß zu allererst Umkehr ins Schweigen sein. Aus der Distanz zu sich selbst, aus dem Verlassenhaben seiner selbst kann das Wort erst wieder sich selber zufallen. Das Wort muß durch das [2] Feuer der Weggabe, des Stillwerdens hörend werden, um wieder etwas sagen zu können.
- Satz: Schweigen wird Wort.
Indem das Wort Fleisch wird, indem es sich hineinbegibt in unser Verstummen, wird sein Schweigen das Wort, welches uns aufdeckt und Gott aufdeckt. Ecce Deus und Ecce Homo. Und von dieser radikalen Konsequenz der Fleischwerdung des Wortes her werden die rätselhaften, ihre Botschaft verloren habenden Situationen, Dinge, Ereignisse, Antlitze wiederum sprechend. Gelesen vom Schweigen des Gekreuzigten her sagen mir die Rätsel und Abgründe etwas, sagen sie mir die Schrecklichkeit der Schuld, die Endlichkeit des Menschen, die Würde des Menschen, die Größe Gottes, das grenzenlose Erbarmen Gottes.
Nur das im Schweigen Ausgehaltene läßt sich sagen – und dies gilt von allem menschlichen Wort. Ohne das Schweigen kann das Denken nur Selbstverständlichkeiten sagen. Und was vor dem je schon mitgebrachten, sich auskennenden, konstruierenkönnenden Wort sich nicht auftut oder in ihm nur verfremdet da ist, was also im bloß verfügenden Sprechen sich nicht zur Sprache bringt, was für es stumm und wie nichts ist, gerade das erschließt dem Schweigen sein Wort, erhebt sich aus seinem eigenen Schweigen zum Wort. Die eigentliche Sache des Sagens ist das Unsagbare, aber sein Wort gebiert sich aus dem doppelten Schweigen: dem seiner selbst und dem des Denkens vor ihm.
- Satz: Wort wird Leben.
Nur deswegen konnte das inkarnierte Wort unsern Tod teilen, weil es unser Leben teilte, unser Leben, das es in Ewigkeit in sich tragen, mit uns teilen will. Bernhard von Clairvaux sagt von diesem Wort, daß es das, was es seit Ewigkeit durch seine Gottheit weiß, in einem zeithaften Experiment „lernen“ wollte durch das Fleisch.1 In den Situationen unseres Lebens, in den Gängen und Entwicklungen unseres Daseins dekliniert sich, konjugiert sich das ewige Wort, wird es unserer menschlichen Lebensform teilhaft, um so seine göttliche Lebensform zu wahrhaft der unsern werden zu lassen.
Worte erproben und einlösen nicht nur im Effekt, sondern im Ertrag der Frucht, sie übersetzen in Leben, dies ist elementares Erfordernis für den Wiedergewinn der Sprache überhaupt. Das unfruchtbare Wort wird so ausgeschieden, das ideologische entlarvt, das wahre bewährt und in seine Sagbarkeit, in seine Mitteilbarkeit, in seine wirkmächtige Vollmacht hinein erhoben.
- Satz: Leben wird Wort.
Auch hier waltet der Zirkel allen Lebens und Verstehens: Nur in der Übersetzung ins Leben wird der Urtext des Wortes gewonnen, und nur dieser Urtext ist Übersetzung des Lebens in sein es fassendes, enthaltendes Wort. Theologisch gesprochen: Die in der Inkarnation vollbrachte Erlösung ist nichts nur Funktionales, sondern ist die Fülle der Offenbarung. Das uns mitgeteilte, das mit uns Geteilte, das uns geschenkte Leben Gottes selber kann uns allein „sagen“, wer und was Gott, wer und was der Mensch ist.
Leben aushalten, Leben mitleben, Leben in jener Intensität und Behutsamkeit zugleich vollziehen, daß es seiner selbst inne, sich selber durchsichtig wird (fides quaerens intellectum – vita quaerens et gignens verbum): das ist der Weg, wie Leben verlautet, Leben Wort wird.
Vielleicht müßte man das ernste Spiel weitertreiben und noch zwei Sätze anfügen: Schweigen wird Leben und Leben wird Schweigen. In der Tat, solcher Prozeß der Wortfindung und Wortheilung geschieht nur, indem Leben seine höchste Intensität in der Verhaltenheit, in jener sich zurücknehmenden grenzenlosen Offenheit vollbringt und indem die Stille des Hörens in aller Lauterkeit zugleich Hinwendung, Aufbruch zum andern hin, Mitvollzug, also Leben wird. Nur so findet das verborgene Leben Jesu in Nazaret, sein Wirken in Galiläa und sein Pascha in Jerusalem zur unzerreißbaren Einheit und gegenseitigen Erhellung. Recht verstanden, sind Nazaret, Galiläa und Golgata zugleich das Schicksal jeden wahrhaften, verantworteten, fruchtbaren Wortes.
Haben wir unsern Ansatz beim Prophetischen hinter uns gelassen? Keineswegs. Der Dreiklang von Schweigen, Leben und Wort, der aus jedem der Pole die je beiden andern hervorgehen läßt, bezeichnet den Klang und Rhythmus des prophetischen Wortes. Nur Wort aus dem Schweigen und ins Schweigen, nur Wort aus dem Leben und ins Leben läßt den, der spricht, sich selber sagen und das sagen, was unendlich mehr ist als nur er selbst. Nur das Wort, das den andern in seinem Leben bis hin zum Letzten, bis hin ins Schweigen begleitet und das zugleich aus dem Schweigen aufbricht und Leben artikuliert, kann das Herz des andern und das Herz des Sprechenden zugleich aufdecken. Und Zukunft, die nicht nur Gemächte ist, kann nur in jenem Wort angesagt werden, das sich aus dem Schweigen empfängt und das sein Empfangenes mit dem Leben bewährt und verbürgt.
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(Anm. d. Bearb.) Bernhard von Clairvaux: De gradibus humilitatis et superbiae, III, 6, 10. – Vgl. Erfahrungen mit Wort und Sakrament, in: Jahrbuch des Evangelischen Bundes 26 (1983) 70. ↩︎