Seelsorge als geistliches Tun

Rückblendung auf unsere eigene Situation

Haben wir nun aber nicht von etwas gesprochen, das weit weg ist? Gewiß, die gesellschaftlichen und pastoralen Verhältnisse Lateinamerikas sind nicht die unseren, Lösungsversuche dort können nicht geradlinig auf hier übertragen werden. Aber wenn wir die Unterschiede zwischen den Kulturen und Gesellschaften in Anschlag bringen, wenn wir das bewußt einbeziehen, was bei uns gerade „anders“ ist, dann kann uns das in Südamerika Fällige und Versuchte betroffen machen im Blick auf unsere eigene Situation. Sicher, es gibt eine ideologische Überzeichnung des Problems der Marginalisierung bei uns. Keine Ordnung und kein Zustand der Gesellschaft sind ohne spezifische Gefährdung – und wer jedes Mal dann, wenn eine solche Gefährdung sichtbar wird, den Ansatz einer gesellschaftlichen Ordnung verändern wollte, der käme nie zu einem solchen Ansatz und müßte schleunigst den Ansatz solcher Ansatzlosigkeit verändern. Aber deshalb die Gefährdung ignorieren? Sklerose und Aushöhlung machen gleichermaßen brüchig.

Ja, wir dürfen nicht daran vorbeisehen: wir stehen in einer dreifachen Erfahrung von „Marginalisierung“, hier in unseren Verhältnissen. Einmal erzeugt die Eigengesetzlichkeit einer durchrationalisierten und durchfunktionalisierten Gesellschaft einen Streß, bei dem viele nicht mitkommen oder nicht mitwollen oder nicht mitdürfen. Indem alle dazu „ertüchtigt“ werden, brauchbare Glieder dieser Leistungsgesellschaft zu sein, wird die Zahl derer, die durch solche Ertüchtigung überfordert sind, keineswegs geringer – und wird ihr Abstand zu den „Tüchtigen“ immer größer. Erschreckende Randzonen wachsen in unserer Bildungsgesellschaft. Daneben gibt es solche, die nicht mitwollen. Solche, denen entweder das andauernde Umsteigen in neue Verhaltensweisen zu lästig ist und die sich deshalb ins Gestern hineinträumen, während andere – und vielleicht sind es noch mehr – sich den Maßstäben des Leistens und Müssens; und Funktionierens entziehen und daneben Ihre Sonderwelt aufbauen. Wieviele Sonderwelten baut sich gerade heute die Jugend. Und nochmals andere „dürfen“ nicht mit, nicht so sehr weil entsprechende Gesetze ihnen den Anteil an unserer Gesellschaft verwehrten, sondern weil die „Gangart“ der Gesellschaft sie an die Seite drängt: Man kann sie nicht brauchen, wenn sie im Konkurrenzkampf an der Seite bleiben und den Wettlauf der Eigeninteressen mit ihrer anderen oder langsameren oder fremderen Gangart stören. Noch einmal: das läßt sich nicht durch Knopfdruck, aber es läßt sich eben auch nicht durch bloße moralische Appelle ändern. Das Faktum, daß viele am Rande unserer gesellschaftlichen Entwicklung stehen und doch in einem immer dichter werdenden Verbund mit allen anderen innerhalb derselben Gesellschaft leben, ist eine gesellschaftliche, aber zumal eine menschliche und auch seelsorgliche Herausforderung.

Das zweite Feld von „Marginalität“ Ist ein spezifisch kirchliches. Viele gehören noch „irgendwie“ dazu und wollen auch dazugehören – sie distanzieren sich aber mehr und mehr von der aktiven Teilnahme an den zentralen Vollzügen des Gemeindelebens und erfahren so nicht mehr in prägender Regelmäßigkeit, was eben nur im Gottesdienst und in der Verkündigung innerhalb der Kirche zu erfahren ist. Dies steht in Wechselwirkung mit der Entfremdung gegenüber den fundamentalen Lebens- und Glaubensauffassungen, in der Spannung zu den [277] Normen und Autoritäten des Christlichen und Kirchlichen. Der „Konsum“ im einzelnen frei kombinierter und im Ganzen von einem gesellschaftlichen Es vorprogrammierter Sinnangebote erzeugt eine Welt- und Lebensanschauung, die sich selbst recht allgemein und „normal“ vorkommt, die aber, gelesen von der Mitte kirchlicher Verkündigung und Praxis, immer weiter abwandert an den Rand. Schon scheint vielen die andere Perspektive weit eher plausibel zu sein: Kirche wandert immer mehr hinaus an den Rand gesellschaftlicher Überzeugungen, die sich durchaus noch aus Motiven christlicher Tradition nährt, aber mit vielen ihrer Forderungen, Normen und Angebote nur mehr Achselzucken erregt.

Verborgener, aber nicht weniger bedrängend ist eine dritte Dimension von Marginalisierung. Man könnte sagen: Wir alle sind am Rand. Kehren wir nochmals zurück zum Ansatz unserer technisierten, funktionalisierten Gesellschaft. Auch jene, die ganz gut mitkommen und prägend mitmachen, sagen es oft am Feierabend oder am Wochenende oder wenn die Ansprüche sich kreuzen und übersteigern: Jetzt bin ich am Rand! Ein erschöpfendes Zuviel belastet viele. Belastend ist aber zumal ein anderes: Wir kommunizieren ohne Unterlaß miteinander, empfangen und senden jeden Augenblick soundsoviele Signale, sind hinein verspannt in ein immer dichteres Informationsnetz. Aber alle diese Informationen, Impulse und Appelle, alle diese Systeme der Kommunikation sind formalisiert, sind abgerichtet auf das Funktionieren und den Erfolg. Man kann in dieser Welt über alles reden, auch über innere Dinge – aber man ist nicht selber drinnen. Ich bringe mich nicht mehr in mein Wort, ich bringe mich nicht mehr zu meinem Du und mein Du kommt nicht mehr an mich heran. Ich selbst stehe im toten Winkel zu dem, was ich darstelle und herstelle: Marginalisierung. Mit meinem Tod, meiner Schuld, meinem Lieben und meinem Fragen bin ich allein.

Wenn dies alles zutrifft, wenn dies alles zumindest einen nicht unerheblichen Teil gegenwärtiger Lebenserfahrung bei uns kennzeichnet, dann gewinnt das Programm einer Seelsorge als' Partizipation und Kommunion, als Teilhabe und Gemeinschaft dringliche Aktualität.

Sind wir jetzt aber nicht vollends in einen glatten Gegensatz zu unserer Ausgangsthese geraten: Seelsorge als kontemplatives Geschehen? Ganz im Gegenteil. Auf Jesus Christus schauen heißt: in ihm jene finden, die nicht mitkommen, mitwollen, mitdürfen; in ihm jene finden, die ihm und seiner Kirche davonlaufen oder unbemerkt entraten; in ihm sich selber finden in der eigenen Einsamkeit und Ratlosigkeit und Unfähigkeit, sich zu öffnen und mitzuteilen. Und müßte nicht auch bei uns solche Partizipation und Kommunion mit jenen, die am Rande sind, Gestalt werden in Begegnung, Kontakt, Bildung lebendiger Zellen, in denen die Übersetzung von Mitte und Rand zueinanderhin geschieht?

Es kann uns an dieser Stelle, in diesem Beitrag nicht darum gehen, ein umfassendes Konzept zu entwerfen, welche seelsorglichen Maßnahmen, Qualifikationen, Planungen notwendig sind, um die aufgezeichneten Randsituationen hineinzubeziehen in das Geschehen von Teilhabe und Gemeinschaft. Wohl aber müssen wir uns nach dem geistlichen Ansatz fragen, der auch ein solches Gesamtkonzept durchdringen, inspirieren und strukturieren müßte, damit eben wirklich Partizipation und Kommunion geschieht. Beileibe nichts gegen Methoden und Techniken pastoralen Handelns - aber sie verlieren sich ins Wirkungslose oder verkehren sich gar ins Gegenteil von Pastoral, wo sie nicht „kontemplativ“ in ihrer Mitte und in ihrem Grund verankert sind.