Grundentscheidungen für ein verantwortliches Verhalten zur Zukunft

Rückblick in die Zukunft

Wenn man entscheiden will, was im Hinblick auf unsere Zukunft am besten zu tun sei, ist es nützlich, sich in der Geschichte nach Zukunftsmodellen umzuschauen: Wie haben sich frühere Generationen auf die Gestaltung und Bestimmung ihrer jeweiligen Zukunft eingelassen? Zu jeder Zeit gab es drei Gruppen von Menschen, die die Zukunftsentscheidungen ihrer Zeit wesentlich mitbestimmt haben: Architekten, Denker, Mönche.

Der Architekt, der Ingenieur entwirft das Haus, das Gebäude, die Stadt, in der ich morgen leben werde. Zukunftsentscheidungen werden vorgebaut.

Demgegenüber scheint es etwas verwegen zu sein, den Philosophen als Gestalter unserer Zukunft anzusehen. Doch die großen Philosophien sind viel mehr in Alltäglichkeiten umgemünzt worden, als es zunächst scheinen könnte. Einerseits sind die Philosophen für verborgene Grundströmungen ihrer Zeit besonders empfänglich und geben ihnen Ausdruck, zum anderen eröffnen die von ihnen entfalteten Ideen Zeitgenossen und Nachfahren neue Entscheidungs- und Handlungshorizonte für die Zukunft. Auch die Technik, die wir heute praktizieren, ist ein Stück gelebter Philosophie, gelebter Weltanschauung. Ich werde noch darauf zurückkommen.

Als dritten Wegweiser in die Zukunft hatte ich den Mönch genannt. Im christlichen Bereich sind Mönche Menschen, die sich absetzen von dem, wie „man“ gängigerweise gerade lebt: Sie sind der Auffassung, das eigentliche Leben, um das es geht, sei anders. Kulturgeschichte und neue Lebensmodelle sind sehr weitgehend von Mönchen vorgelebt und getragen worden. Sie haben das umgesetzt, was Jugend an Alternativen erhofft hat. Ich will versuchen, das an vier großen Gestalten des abendländischen Mönchtums deut- [172] lich zu machen: an Augustinus, Franz von Assisi, Albert dem Großen und Benedikt von Nursia.

Augustinus hat in seinem „Gottesstaat“ dargestellt, daß es in der Geschichte letztlich nicht auf die Wirksamkeit dieses oder jenes einzelnen Staates oder dieser oder jener Persönlichkeit ankommt, sondern auf das, was im Gang der Geschichte bleibt, was für den Gang der Geschichte wesentlich ist. Für ihn liegt die Zukunft in Jesus Christus. Geschichte ist auf Christus hin. Um dies eine Wesentliche durchhalten zu können, muß sich die Geschichte aus der Bindung an eine Macht, das war zu seiner Zeit das Römische Reich, lösen. Augustinus hat in den Wirren der Völkerwanderzeit erfahren, daß die Bindung der Geschichte an die Geschicke des Römischen Reiches nicht wesensnotwendig ist. Er hat nicht das verteidigt, was unterging, sondern die lebendige Mitte bewahrt, das Wesen dessen, was bleibt. Loslösung wird so zur Bedingung der Kontinuität.

Bei Franz von Assisi finden wir die totale Konzentration auf den einen, nämlich Jesus Christus, als Sprung in die Universalität, als Bedingung der Universalität. Er bekommt den Auftrag, die herkömmlichen, den inneren Fortschritt hemmenden Formen des Lebens im Wohlstand eines wirtschaftlich gesicherten Elternhauses zu verlassen. Er soll der sein, der das Neue, eine neue Weise der Nachfolge Christi und damit eine neue Weise des Lebens ermöglicht. Weil er Christus allein suchte und sonst nichts und niemand, deswegen wurden der Tod und die Sonne, wurden alle Menschen zu seinen Geschwistern, küßte er den Aussätzigen, besuchte er den Sultan oder unterwarf sich dem Papst und sprach unmittelbar mit ihm. Sultan, Aussätziger und Papst als Nächste, Sonne, Mond und Tod als Bruder und Schwester, diese neue unbedingte Freiheit allem gegenüber wurde nur möglich aus der Bindung an den einen allein: Konzentration als Bedingung der Universalität.

Albert der Große war der Gelehrte, der die Wissenschaft seiner Zeit, auch die der Antike und des dem Christentum feindlichen Islam, in ganz besonderem Maße in sich vereinte und sie für das Christentum fruchtbar machte. „Contemplata tradere“ war seine Maxime als Dominikaner: das Durchdrungene weitergeben. Dazu gehört auch, Befremdliches und zunächst Bedrohliches anzunehmen und ohne Furcht zu einer Synthese mit dem Christlichen zu [173] bringen. Albert vollzieht die Synthese dieser unterschiedlichen Traditionen: Das Neue, ein neuer Ansatz im Aristotelismus des christlichen Mittelalters, der im naturwissenschaftlichen Bereich durch seine Einschätzung des Experimentellen bis in die Neuzeit hineinreicht, ist nur möglich aus der besonnenen, abwägenden Synthese. Synthese wird so zur Bedingung des Neuen.

Benedikt von Nursia vollzog eine Synthese auf andere Weise. Er verband das römisch-griechische Erbe mit dem Kulturgut der jungen germanischen Völker zu einer neuen Lebensform und baute diese Synthese in eine Regel ein, so daß sie tradierbar wurde. Sein Geheimnis war die Radikalität des Maßes. Benedikt sah, was menschlich zumutbar ist, aus der Radikalität der Ausrichtung auf das eine Notwendige. Dabei wurde noch ein weiterer Gesichtspunkt tragend. Er heißt: mönchische Askese oder Verzicht als Bedingung der Kultur.

Vielleicht können diese kurzen Bemerkungen im Ansatz etwas sichtbar machen von dem, was die Mönche uns in unserer gegenwärtigen Situation zu lehren vermögen und was heute nicht weniger aktuell ist als damals – nicht im Sinne einer Kopie, sondern im Sinne einer strukturellen Verwandtschaft. Ich möchte es zusammenfassend die „architektonische Philosophie des Mönchischen für die Zukunft“ nennen:

Loslösung als Bedingung der Kontinuität, totale Konzentration auf das eine, was gilt, als Bedingung der Universalität, Synthese der unterschiedlichen Ströme als Bedingung des Neuen, Verzicht als Bedingung der Kultur.

Lassen Sie mich jetzt noch einmal abbrechen und von etwas scheinbar ganz anderem, nämlich vom Geist der Neuzeit sprechen. Ich möchte zwei Daten nennen, die philosophisch –und nicht nur philosophisch – seither wirksam sind und die wir nicht rückgängig machen können. Ich spreche wieder in einer fast symbolischen Verkürzung von ihnen, wohl wissend, daß ich in dieser Verkürzung weder den genannten Gestalten noch der Komplexität der Phänomene noch dem ganzen sie tragenden geistesgeschichtlichen Zusammenhang gerecht werde. Ich glaube, solche Rede aber in der Blickrichtung verantworten zu können, die uns jetzt leitet. Drei [174] Namen erscheinen mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig: als erstes Descartes, dann Feuerbach und Marx, die ich zusammenfassen werde.

Descartes, der einer meiner Lieblingsphilosophen ist, entspricht, in seine Tiefen hinein ernst genommen, nicht jenem klassischen Muster, in dem er normalerweise sehr rasch geistesgeschichtlich untergebracht wird. Zwar bin auch ich der Ansicht, daß er in seinem Traum vom 10. November 1619 in Neuburg an der Donau einen Bruch, einen Neuanfang einleitete. Was er da sah, gehört zu den kühnsten und folgenreichsten Visionen; ich meine den Entwurf einer mathesis universalis, die sich in keiner Weise auf eine Autorität stützt und die keinerlei vorgegebene Gewißheit mehr anerkennen will: die radikale Rücknahme des Vorgegebenen im rekonstruktiven Anfang.

Ihn aber nur von diesem Traum aus zu beurteilen greift zu kurz. Er ist derjenige, der die klassischen Inhalte der Philosophie gerade „retten“ will. Er ist viel aristotelischer, als es zunächst erscheint. Wenn ich seine Meditationes in ihren vielen Schichten genau mitdenke, dann weiß ich, wie wenig ich ihn allein von diesem Traum von 1619 her verstehen darf. Indem Descartes sagt: Aufgrund der bloßen Tradition kann ich das, was bisher galt, nicht intellektuell rechtfertigen, sondern ich muß es aus sich selber, aus unmittelbarer Evidenz einlösen, radikalisiert er in einer ungeahnten Weise sowohl jene anseimische Unbefangenheit des fides quaerens intellectum und des Konstruierens des Glaubensinhaltes aus der Vernunft wie auch jene Unbefangenheit des Albert gegenüber dem Experiment. Descartes rekapituliert das, aber formuliert es so, daß es in seinen Folgen tragend wird für ein Weltmodell, das eben doch heißt: Konstruktion der Welt in reiner Internalisierung ihrer Vorgegebenheiten, so daß im Grunde, vom Ansatz her, alles Denkbare machbar wird.

Das Denkbare machbar zu machen, ist der neue kühne Ansatz, in dem sich mehr vollzieht als nur die Unterscheidung von Physis und Thesis und die Einholung der Physis in Thesis. Hier wird ein neuer Weltentwurf sichtbar. Natur wird als ganze im Grunde rekonstruierbar und von da aus konstruierbar – nicht nur Natur, sondern Welt überhaupt. Damit aber wird das Subjekt als solches in eine ungeheure neue Mächtigkeit eingesetzt, die es als Ursprung der [175] Welt aus sich selber heraus besitzt. Welt wird im Grunde nur die Extrapolation des Subjektes, nicht schon bei Descartes, sondern bei einer Bewegung, die sich an ihn anschließt, wenn ich diese Bewegung in ihrer inneren Dynamik lese.

Eine folgenschwere Erweiterung dieses Ansatzes erfolgt – auch das ist wieder sehr kurz und anfechtbar gesagt – durch Feuerbach und Marx. Bei ihnen wird das Subjekt vom Ego zur Gattung oder zur Klasse oder zum Kollektiv. Sie treiben im Grunde die neuzeitliche Philosophie weiter. Aber das Subjekt ist nicht mehr das Ego des einzelnen oder das transzendentale Ego, sondern das Kollektiv.

Ich habe wie zufällig einen merkwürdigen Befund in unser Nachdenken eingespielt: einmal die Mönche, die ihre immanente Philosophie haben und in ihren vier Dialektiken denken: Loslösung als Bedingung der Kontinuität, totale Konzentration als Bedingung der Universalität, Synthese als Bedingung des Neuen, Verzicht als Bedingung der Kultur. Zum anderen habe ich den neuzeitlichen Ansatz vor mir, der für mich zwei Dinge besagt: erstens, daß das Subjekt, der Mensch, alles Denkbare zu machen versucht, eine konstruktive Welt, in welcher er am Ende alleine ist, weil die Welt nicht mehr sein Gegenpol ist, sondern bloß ein machbares und beherrschbares Ergebnis; zweitens, daß das Subjekt nicht mehr nur der einzelne ist, sondern das Kollektiv.

Ich meine, hier liegt zuinnerst der Grund dafür, warum wir heute eine oft irrationale – das Wort irrational möchte ich hier sehr vorsichtig gebrauchen, richtiger wäre zu sagen, eine oft nicht richtig durchschaute – Aversion gegen die technische Kultur antreffen. Die technische Kultur hat eine doppelte Unheimlichkeit für uns: einmal das Untergehen des einzelnen im Kollektiv, die Erfahrung der kollektiven Einsamkeit, des Verplantseins in diesem Kollektiv. Denn wenn ich das Miteinander nur als Subjekt betrachte, als gemeinsames Subjekt und nicht in einer gegenseitigen lebendigen Bezogenheit und Polarität, dann eben bleibt ja die Gesellschaft als ganze einsam. Zum anderen ist es unheimlich, wie sich der Mensch davor fürchtet, mit seinen menschlichen Konstrukten allein zu sein und von dem, was er selber konstruiert hat, verschlungen zu werden.

Diese doppelte Sorge davor, daß der Mensch aufgezehrt wird von dem, was er konstruiert, und davor, daß er völlig hinein verplant [176] wird ins Kollektiv technischen Produzierens, in dem er nicht mehr er selber sein kann, dringt zu scheinbar entgegengesetzten Positionen, etwa: „Um Himmels willen, die Welt geht unter; die Ressourcen sind zu Ende!“ und: „Um Himmels willen, die Welt geht unter; wenn es nun Atomenergie gibt, zerstört die Menschheit endgültig sich selber!“

Solche Panik wird zum Symbol einer transzendentalen Angst, die aus tieferen Wurzeln wächst als nur aus ihren bloß technischen und naturwissenschaftlichen Anhalten, wobei diese technischen und naturwissenschaftlichen Anhalte nicht einfach Hirngespinste sind, sondern sehr real in unseren Erfahrungshorizont hineinreichen. Aber wenn ich nur aufgeklärt habe, daß es nicht ganz so schlimm ist, wie es im ersten Hinblick aussieht, daß es vielleicht doch noch eine ganze Zeitlang weitergehen könnte wie bisher, habe ich in der Grundsituation nichts Entscheidendes verändert. Sicherlich, wir müssen uns zu unserer vom neuzeitlichen Weltentwurf bestimmten Gegenwart bekennen: zum Planen, zum Machen, zum Herstellen, zur Irreversibilität einer technischen Kultur. Gleichzeitig aber sind wir gezwungen, diesen Ansatz neuzeitlichen Denkens zu befragen, ob wir aus ihm heraus allein mit unserer Technik weiterleben können. Oder stehen wir nicht doch eben in unserer Stunde in ähnlichen Anforderungen wie ein Augustin im Zusammenbruch des römischen Reiches oder wie ein Franz in der Fragwürdigkeit seiner zeitgenössischen reichen Kultur? Oder sind wir nicht derselben Fragwürdigkeit des Bisherigen ausgeliefert wie ein Albert in der Umkehrung des Hergebrachten durch die im arabischen Spanien neu aufbrechende Philosophie der Antike? Oder nochmals: Erleben wir nicht eine ähnliche innere Bedrohung unseres Lebensraumes wie der frühe Benediktinismus und sind insofern also auch herausgerufen zu Antworten von einer Radikalität wie jene der Mönche?

Soweit einmal dieser Rückblick in die Zukunft. Und von hier aus begeben wir uns nun in einen Konsequenzen ziehenden – wenngleich vielleicht sie nur zaghaft andeutenden oder ins Gespräch bringenden – zweiten Teil: Vorblick auf die Zukunft.