Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
Ruhe, nicht Leben!
Geschichte in ihrer Wucht und das Leben in seinen universalen Zusammenhängen auf dem eigenen Ich lasten zu fühlen, in Frömmigkeit an diese Last und an einen Heilbringer, der sie [107] nicht zu lösen scheint, gebunden zu sein – das ist ein Leben im überfordernden Druck. Die Hoffnung auf Heil, das Auslangen nach Heil fallen nicht aus, aber sie werden eigentümlich verlagert.
Setzen wir ein bei einem Text, in welchem Reinhold Schneider die Brücke schlägt nicht nur zwischen seiner Erfahrung von Kosmos und Geschichte zum bleibenden und zugleich gewandelten Glauben, sondern auch eine Brücke von diesem Glauben zu seiner eigenen Glaubens- und Lebenssituation. „Der Herr hat den Weg des Menschen gelebt, den schmalen Pfad; wie Sokrates hat er allein den Menschen gesucht; seine Existenz im Sinne einer Möglichkeit beantwortet; die Rätsel des Kosmos und, im Vordergrund, der Geschichte, wiewohl er an Geschichtlichkeit nicht überboten werden kann, hat er übergangen. (Alles, was Weltordnung angeht, ist Zutat der Theologen.) Nur vom Ende hat der Herr in geheimnisvoller Deutlichkeit gesprochen. Das Göttliche der Botschaft ist eben die Begrenzung und Bescheidung, das Schweigen vor den unendlichen Räumen; sie bedeutet die Hervorhebung des Menschen aus den kosmischen Bezügen. Aber ich bin nicht imstande, diese Singularität im All zu leben: es zieht mich zum Untergange mit der Kreatur; ich ersehne den Frieden, den sie erwarten darf“ (132f.).
Es ist ein äußerstes Paradox: Reinhold Schneider bleibt vor dem Angesicht Gottes, er bleibt unter dem Ruf – aber es zieht ihn in die „Krypta“ (79). Er gesteht: „(M)eine Lebenskraft ist so sehr gesunken, daß sie über das Grab nicht hinauszugreifen, sich über den Tod hinweg nicht zu sehnen und zu fürchten vermag. Ich kann mir einen Gott nicht denken, der so unbarmherzig wäre, einen todmüden Schläfer unter seinen Füßen, einen Kranken, der endlich eingeschlafen ist, aufzuwecken. Kein Arzt, keine Pflegerin würde das tun, wieviel weniger Er!“ (ebd.). Und nochmals das Bild vom Schläfer: „(Das Schifflein Petri) wird ankommen; und dann ist von der Ladung nichts mehr zu befürchten. Denn wir werden sein wie die Träumenden; ich aber wünsche mich unter die Schläfer von Ephesus; wenn der Sand unter dem Kiele knirscht, drehen sie sich um im Schlaf; sie verschlafen Gericht und Seligkeit, denn allzu müde ist ihre schwache Kraft im Weltlauf geworden, kein Posaunenschall kann sie ermuntern“ [108] (241). Ankommen, dabeisein bei der Ankunft und doch von ihrem Ereignis nicht aufgeweckt werden. Reduktion auf ein pures Sein, das Mitsein bleibt, Sein beim Herrn – aber nicht Leben heißt, weil Leben ja doch heißt „weitermachen“, Selberleben, Pol sein, der das Ganze trägt, Punkt, auf dem die Kugel ruht.
Die Spannung von Ruhe und Leben im selben Gebet für die Toten schreckt den an diesen Nullpunkt Geratenen. „Warum sollte es nicht erlaubt sein, in der Kirche zu beten um die ewige Ruhe? Sie verheißt sie doch. Aber Ruhe ist nicht Leben; denn Leben wendet sich immer gegen sich selbst. Es ist doch gar nicht möglich, in einem Atemzuge um die ewige Ruhe und das ewige Leben zu bitten. Gilt aber die zweite Bitte nicht, so gelangt die Brücke nicht ans andere Ufer – und alle Wagen stürzen ab“ (129). Das Nichtmehrkönnen und das Gehaltensein, das Fliehen und das Bleiben, sie geraten in einen rational nicht mehr auflösbaren Konflikt. Heilssehnsucht kommt an ihr äußerstes, indem sie sich selbst zurücknimmt. Sehnsucht nach Leben und Sehnsucht nach Ruhe stehen struktural zueinander wie in der Erfahrung Reinhold Schneiders Glaube und Zweifel. So stellt er das Verhältnis vor: „Meine eigene religiöse Verfassung: der Orchidee ist es zu dunkel auf dem Boden des Urwalds; sie erklettert die Stämme und erreicht die Kronen; hier lebt sie aus dünnen Humusschichten in Gemeinschaft mit einem Pilz, der die erreichbaren Nährstoffe assimiliert und überträgt und die Besamung ermöglicht; er ernährt die Orchidee und saugt sie aus und wird endlich von ihr verdaut. Der Zweifel ernährt den Glauben; der Glaube den Zweifel“ (241f.). Die beiden Erfahrungen, die Erfahrung, daß die Botschaft Jesu gilt, die Erfahrung, daß sie die Last von Geschichte und All nicht löst, sind in einen Zirkel verstrickt, der sich je weiter treibt. Daraus wächst die Überzeugung: Nur du, Herr, bist Heil! und zugleich: Nur Ruhe ist Heil, Zurücknahme der Dialektik ins Nicht.
Eines freilich wäre ein Mißverständnis: zu meinen, es ginge Reinhold Schneider nur um sich, um das Fertigwerden mit sich am Ende seiner Kraft. Sie ist am Ende, aber in der Bitte um die Ruhe für sich schwingt doch noch ein anderes mit: „Zu beten nur noch aus Not um die Welt: das ist bereits die letzte Form der Frömmigkeit. Was mich selber angeht, rührt mich nicht an. [109] Ich verlasse mich auf das mir angeborene Schwergewicht. Weltall und Schwerkraft sind in Harmonie“ (190f.). Laß mich, aber laß nicht die anderen! Etwas wie Prophetenschicksal klingt hier an, etwas wie die Wandermüdigkeit des Elija auf dem Weg. Er selber: „Ich habe mich in dem Verdacht, dasein zu müssen als Vorbote des Entsetzlichen, gegen das keine Warnung und keine Bitte hilft. (Einen anderen Sinn dieser mühsamen Existenz, die eben doch, in aller Geringfügigkeit, eine geschichtliche ist, kann ich nicht mehr erkennen. Vermutlich wird erst die Katastrophe mich erlösen. Furchtbar-Unfaßbarer, komme bald!) – Warum dann noch schreiben?“ (277). Der Dichter steht unter der Last des Weltalls und der Geschichte. Er steht aber zugleich für die anderen. Unter dieser Last und in diesem Zug kann er nur sein als einer, der hofft, daß bald Abruf erfolgt, Wegruf von sich selbst. Dasein als Weggerufensein von sich selber, weil nur so ich mit mir eins sein kann: „Ich begehre nichts zu begehren, und ich wünschte nichts zu wünschen: das gelte auch für Unsterblichkeit in jeder Bedeutung“ (258).
Das Sterbenwollen ist Sehnsucht nach Heimat, Sehnsucht nach einem Anderen, der die Stunde bemißt, und nach seinem Lied: „Nicht hier wird meines Lebens Zeit gemessen, der geliebte Turm mißt sie unbestechlich und unermüdlich: Wenn er ruft – geschehe es bald! –, werde ich da sein, und dann habe ich nur die Bitte um sein Lied über meiner Ruhe“ (270). In der Sehnsucht nach der letzten Kontraktion in sich selbst, nach der Rücknahme in den Nullpunkt der Ruhe, lebt ungeschieden die Beziehung, die Transzendenz: Sehnsucht nach dem Lied über der Ruhe.