Das Heilige und das Schöne

Sakrale Kunst – in gottferner Zeit?*

Kunst und Zeit haben wesentlich miteinander zu tun. Das gilt erst recht für die sakrale Kunst – nicht nur weil sie der Zeit des Festes zugehört, sondern weil sie entscheidend geprägt ist von der geschichtlichen Stunde der Religion und des Glaubens, in der sie entsteht. Das bislang Ausgeführte gilt nur scheinbar zeitlos und allgemein. Es ist zwar im Hinblick auf alle geschichtlichen Formen des Sakralen gesagt, aber doch bewußt aus dem Innestehen in der heutigen Stunde des christlichen Glaubens und der christlichen Gemeinde. Nur von ihrem Selbstverständnis und vom Verständnis des Heiligen, wie es sich gegenwärtigem Denken erschließt, war es uns möglich, sowohl die Unterscheidung des Heiligen und des Schönen im Zusammengehören beider als auch die Unterscheidung des Heiligen und des Sakralen am Phänomen der Kunst abzulesen. Die Achtsamkeit auf die gegenwärtige Stunde erlaubt auch, die Geschichtlichkeit der jeweiligen Gestalt des Sakralen zu sehen.

[265] Sakrale Kunst wird in ihrer Gestalt ein je verschiedenes Verhältnis zur Weltlichkeit haben, je nachdem, wie ihre geschichtliche Welt zum Heiligen steht, es erfährt und bezeugt. Wo Welt in einer durchgängigen Sakralität ihrer Bezirke aufgeht, wo Natur und Gesellschaft wie in weiten Bereichen der Antike und des Mittelalters als Epiphanien des Heiligen verstanden wurden, wird die Differenz der sakralen Kunst kaum an die Oberfläche der Gestalt dringen. Wo – wie in den Reformen und Reformationen des Mittelalters – die Differenz einer gängigen Gestalt von Weltlichkeit und Kirchlichkeit zum Ursprung des Glaubens, zum reinen und lebendigen Evangelium aufbricht, wird sich diese Differenz auch in der Gestaltsprache sakraler Kunst niederschlagen. Allerdings wird ihre Gestalt hier nicht so sehr die Festlichkeit heiliger Feiern spiegeln, sondern eher in expressiver Unmittelbarkeit die Nähe der Offenbarung Gottes zum Menschen in seiner unverstellten Not und Wirklichkeit bezeugen.

In einer Epoche des Weltloswerdens der Religion wird auch die sakrale Kunst in eine eigenartig weltlose Gestaltschwäche zurücksinken. Die restaurativen Tendenzen des letzten Jahrhunderts zeugen davon. Und heute, in einer Zeit, in der das Weltloswerden der Religion in ein Gottloswerden der Welt, in einen Schwund des Heiligen aus der Welt, zu geraten scheint – gibt es da noch sakrale Kunst?

Jedenfalls gibt es die Gemeinde und in ihr den Glauben, daß diese weltliche Welt, in der sie steht, die von Gott geliebte und angenommene Welt ist. Hier bekundet sich ein neues Innestehen der Gemeinde in der Welt, nicht im Sinne allgemeiner Weltgeltung ihres Glaubens oder ihres Anspruchs auf welthafte Macht, sondern in einem Ja zu dieser weltlichen Welt, das sich aus Gottes Ja zu ihr versteht. In dieser Zeit wird die Feier der Gemeinde schlichte, welthafte Züge, die Züge unmittelbarer Mitmenschlichkeit tragen. Das Mahl und das Hören auf das Wort, das Zusammengehören in Not und Freude, die Verbundenheit in Glaube, Hoffnung und Liebe werden die Feier und die Feste dieser Gemeinde charakterisieren. Die Kunst dürfte in dieser Feier und dieser Gemeinde ihren angemessenen Platz und ihre entsprechende Gestalt, eben als mediale Kunst finden, die nüchtern und bedacht auf solches achtet und es gestaltet: Mahl, Gemeinschaft, Zusammenhalt, Dasein inmitten der [266] Welt. Es gibt also von Wesen und Auftrag her auch heute sakrale Kunst. Sie wird aber gerade nicht auffällige Zeichen ihrer Sakralität, nicht wehmütige Rückwendung zu anderen Epochen und nicht triumphalen Glanz der Selbstbehauptung demonstrieren, sondern Gottes Ja zur Welt und zum Menschen unserer geschichtlichen Stunde spiegeln.

Sakrale Kunst wird heute also sehr geistlich sein. Sie wird, unbeschadet ihr Ursprünglichkeit und Selbständigkeit als Kunst, als christlich-sakrale Kunst in einer überraschenden Entsprechung z um Pauluswort stehen: „Ich liege in Wehen um euch, bis Christus unter euch Gestalt gewinnt“ (Gal 4,19). Sie wird zugleich sehr welthafte Kunst sein. Beides, Geistlichkeit und Weltlichkeit, werden in ihr ungetrennt und unvermischt einander entsprechen und ins Selbe kommen.