Das Heilige und das Schöne

Sakrale Kunst: Übereignung der Gestalt in den Gottesdienst*

Warum soll religiöse, besser: bezeugende Kunst im umrissenen Verständnis von sakraler Kunst unterschieden werden? Wir dürfen die Einsicht voraussetzen, daß es für eine lebendige und wesentliche Erfahrung des Heiligen keinen Sakralbereich neben dem Profanbereich gibt. Gleichwohl erfordert der konkrete Aufgang des Heiligen stets die Versammlung, die „Gemeinde“ dieses Aufgangs. Nicht um sich abzuschließen, sondern um die Unselbstverständlichkeit dieses Aufgangs zu wahren und bezeugend zu künden, versammelt sich die Gemeinde.

Wenn Sakralität also Zuordnung zu der Gemeinde und ihrem Begehen des Aufgangs des Heiligen meint, dann ist sakrale Kunst Kunst, die mit der Begegnung von Gemeinde mit dem Heiligen zu tun hat. Das mag zunächst nur ein soziologischer, der Kunst äußerlicher Aspekt scheinen. Man könnte sich ja denken: Irgendeine Gemeinschaft hat ihre Erfahrung des Heiligen, die ihr zugrunde liegt, und entsprechend ihre Praxis des Umgangs mit dem Heiligen. Kunst, die dieser Praxis angemessen und in sie eingepaßt wäre, [263] könnte man für diese Gruppe oder Gemeinde sakrale Kunst nennen. Ob und wie sie Kunst ist, entscheidet sich an den ästhetischen Maßstäben, die sie unabhängig von dieser zufälligen Vereinbarkeit mit dem Gottesdienst dieser Gemeinschaft erfüllt. Sakralität und Kunst lägen in diesem Fall nebeneinander und hätten nichts Wesentliches miteinander gemein. Der Ursprung der Künste im Fest und die innere Nachbarschaft des Heiligen und des Schönen weisen den Gedanken indessen deutlich auf eine andere Fährte. In der erörterten Möglichkeit religiöser Kunst haben sich die konstitutiven Wesensvollzüge des Schönen und des Heiligen als miteinander verschränkt erwiesen. Wenn wir nun religiöse Kunst von der spezifisch sakralen unterscheiden, dann besagt das, daß alle sakrale Kunst religiöse Kunst, aber umgekehrt nicht alle religiöse auch sakrale Kunst heißen könne.

Was also verstehen wir unter sakraler Kunst, was ist das sie innerlich Auszeichnende und Unterscheidende? Wir sagten schon, sie ist gemeindebezogene Kunst. Doch dieser Bezug ist eben kein zu ihr als Kunst äußerer, vielmehr ist das, was sich in sakraler Kunst bezeugt, die bestimmte Erfahrung des Heiligen, die die betreffende Gemeinschaft zur Gemeinde macht. Die Innerlichkeit und Wesentlichkeit dieses Bezugs schließen aus, daß sakrale Kunst nur Kunst ist, die auf den zufälligen Geschmack einer Gemeinde Rücksicht nähme. Auch ungewohnte, sogar provokatorische Kunst kann sakral sein. Sie kann sagen: Das ist es doch, was uns angeht, und angesichts dessen, war ihr überseht oder ausklammert, muß sich unsere Gemeinschaft im Heil und Heiligen ganz anders vollziehen! Darum eben geht es: Der Dialog der Gemeinde mit dem Zuspruch und Anspruch des Heiligen ist der Raum, in den sich sakrale Kunst hineinstellt, in den hinein sie sich überschreitet, so daß sich ihre Gestalt nicht eigentlich in sich selber schließt, sondern sich im Geschehen der Versammlung der Gemeinde dem Aufgang des Heiligen stellt.

Dann aber ist sakrale Kunst mediale Kunst. Das heißt, es geht ihr wie aller Kunst um die Gestalt, aber es geht ihr nicht zuletzt um ihre künstlerische Gestalt, sondern um die Gestalt der Feier der Gemeinde, in der das Ereignis des Heiligen für die Gemeinde und das Ereignis der Gemeinde ins Heilige geschehen. Die unmittelbare Gestalt des sakralen Kunstwerkes steht zu der mittelbaren Gestalt, zur Feier der Gemeinde, in einem wechselseitigen Verhältnis. Sie bestimmt [264] sich von dieser Feier der Gemeinde her, gestaltet sie in sich und bestimmt sie zugleich von sich aus und durch sich, gibt ihr von sich her Gestalt. Das ist keine äußere Begrenzung der künstlerischen Selbständigkeit, sondern ihre Erweiterung und Konkretion im umfassenden Zusammenhang einer Gemeinde, der wesentlich zum Kunstwerk gehört.

Für die Gestalt des sakralen Kunstwerkes erwächst daraus eine wichtige Folge. Sie ist mit dem Wort mediale Kunst bereits angedeutet. Die Gestalt will zwar als Gestalt in sich vollendet sein, wird das sich in ihr Ereignende so vollkommen wie nur möglich verfassen, es als wunderbar zum Vorschein bringen. Sakrale Kunst ist Gestalt als Ereignis, aber sie übereignet zugleich ihre Gestalt in die Gestalt der feiernden Gemeinde. Denn in deren Mitte soll sich nicht zuerst die Kunst, sondern das Heilige selbst ereignen. So wird das Kunstwerk in einer eigentümlichen Diskretion, in einer wesentlichen Offenheit über sich hinaus, in einem Sich-Verschweigen und Über-Sich-Verweisen schwingen, um unabsehbar neu und frei ihre geschichtliche Gestalt zu erbilden. Damit ist ein letztes Stichwort gefallen: geschichtliche Gestalt.