Lerne am Herd die Würde des Gastes
Sardische Notizen
Klaus Hemmerles Gedichte können hier weder insgesamt vorgestellt noch einlässlich analysiert werden. Aber einen gewissen Eindruck von der Gedichtproduktion Klaus Hemmerles möchte ich zu vermitteln versuchen.
Die Sujets der Gedichte überschneiden sich zu einem nicht unerheblichen Teil mit den Sujets der Bilder, die in Alghero entstanden sind. Nicht eigentlich Gegenstände, sondern Haftpunkte der Gedichte sind das Meer, die Berge, das Meer und die Berge, Alghero – die Stadt am Meer, Kirchen und Nuraghen, die Gärten, die Täler, die kleinen Orte im Landesinneren. Zudem bevölkern in großer Zahl Esel und Schafe, Blumen und Bäume, zumal Olivenbäume, Fischer, Hirten und Verkäufer, alte Bekannte und gute Freunde aus vielen Jahren die Gedichte.
Als Hemmerle Alghero und seine Umgebung kennenlernte, begann sich der Tourismus zu etablieren und hatte dennoch die traditionelle, geradezu archaische Hirten-, Kleinbauern- und Fischerkultur nichts von ihrer prägenden Kraft verloren. Von der Faszination, die davon für Hemmerle ausgegangen sein muss, zeugen nicht wenige Gedichte.
Der Hirt
Er packte das Schaf,
warfs nieder auf den Rücken
und schwang es,
zappelndem Wehren zum Trotz,
sich sanft auf die Schultern,
es hinzutragen, das verirrte, zu den neunundneunzig.
Sardische Mütter
Nuraghen,
schwarz verhüllt,
aus Glaubenssteinen gebaut,
Herzkammergeheimnisse bergend,
Weisheit in kargen Worten verlautend,
auf Familiengebirgen thronend.
Abschied
In der Kirche löst sich
aus der Menge zu verhaltenem Gruß
die junge Witwe des Hirten.
Als wir nach Mittag
Abschied nehmen vom Dorf,
warten am Pfarrhof die Söhne
mit dem Geschenk.
Sie, um zwei Steinwürfe weit
in der Gasse zurück,
hebt aus dem schwarzen Tuch
die Hand, bis wir entschwunden sind.
Immer nehmen die Gedichte ihren Ausgangspunkt von dem, was sich sinnlich darbietet; einmal sind es Gerüche.
Altstadt-Düfte
Du mußt die Augen schließen
und die Sinne öffnen
und durch die Altstadt gehen.
Grundton Holzkohlefeuer,
Dominante Meerfrische,
Zwischentöne vom Fischmarkt,
Untertöne Knoblauch.
Viele Obertöne, immer wieder
Rosmarin.
Doch nie geht es um Abbildung; und gerade deshalb finden sich in der Sammlung auch Gedichte, die eine große Nähe zu seinen Aquarellen Hemmerles haben, und zwar sowohl in dem Bestreben, Räume bzw. räumliche Konstellationen entstehen zu lassen, als auch hinsichtlich der Bedeutung, die den Farben zukommt.
Kadenz in Blau
Zwischen Bosa und Alghero
ragen die Berge nicht,
sie fallen.
Schwingende Bögen
führen,
sich kreuzend, sich fangend
in Blau von Blau zu Blau,
vom Himmel zum Meer.
Punta Giglio
Steig von den Pinienhainen
der Engelsszenen des Quattrocento
durch van Gogh‘sches Gelb
der Kugelflächen aus Wolfsmilch und Ginster
auf zum Bild,
das sich selber malt:
zwischen blauen Kissen aus Rosmarin
das Weiß der wilden Lilien
auf dem Fels, der silbern
abstürzt in smaragdenes Meer.
Valverde
I.
Der Himmel neigt sich
und gräbt in die Erde
eine Apsis
aus Felsen und Grün.
Eingepflanzt zum Altar
das weiße Heiligtum.
Wolkenweihrauch
fährt nieder vom hohen Blau,
und rötlichen Straßenteppich
rollt die Stadt
den Pilgern unter die Füße.
[...]
In ihrer endgültigen Textgestalt ist den Gedichten ein Titelblatt beigefügt mit der Aufschrift:
„Frühling in Alghero
Sardische Notizen
März 1988“
Weiterhin ist die Sammlung durch Zwischenblätter gegliedert, auf denen die mit römischen Ziffern nummerierten Überschriften von acht Kapiteln verzeichnet sind:
„I. In der Stadt“
„II. Im Land“
„III. Um Villanova“
„IV. Um Valverde“
„V. Längs dem Meer“
„VI. In den Gärten“
„VII. Nochmals: die Stadt“
„VIII. Gestalten und Zeichen“
Von daher ergibt sich eine Gliederung, die einem Register von Wanderrouten gleicht: In der Stadt Alghero (4 Gedichte) nehmen alle Wege ihren Anfang. Dann aber steigen sie einmal auf die Hochebene hinauf (13 Gedichte), wenden sich ein anderes Mal aber zum Dorf Villanova (6 Gedichte) oder besuchen den kleinen Marienwallfahrtsort Valverde (5 Gedichte). Wieder ein anderes Mal folgen sie der Küstenlinie zwischen Alghero und Bosa (8 Gedichte) oder durchstreifen die Gärten an den Straßen im Land (11 Gedichte). Doch alle Wege kehren zur Stadt zurück (5 Gedichte). Und wohin sie auch führen, überall sind „Gestalten“ und „Zeichen“ anzutreffen (10 Gedichte).
Das erste und letzte Gedicht rahmen zudem diese Wege, indem sie die Titelstichworte auflösen. Das letzte spricht vom Frühling, das erste von Alghero: der Stadt.
Nachmittag im Hafen
Zwischen den graphitenen Muschelschalen
Himmel und Meer
schimmert die Perle Stadt.
Nur sacht klirrende Schiffstaue
verlauten.
Sie aber
schaut aus Turmaugen
goldbraun gegen Abend.
Feigenbaum im März
Wie ein Fremdling im Frühlingsgarten
der graue Kreisel
aus übereinander ragenden
sich rückwärts neigenden,
nach oben blickenden
Oranten.
Am letzten Tag
entquillt den aufgehobenen Händen
erstes Blattknospengrün.
Näher betrachtet erweisen sich die Gedichte „Feigenbaum im März“ und „Nachmittag im Hafen“ sogar als solche, von denen aus thematische und ästhetische Linien durch die gesamte Sammlung hindurch verfolgt werden können.
Die Platzierung des Gedichtes „Feigenbaum im März“ ans Ende der Sammlung mag insofern plausibel sein, als eine Begebenheit des letzten (Urlaubs-)Tages ihr Sujet zu sein scheint: dass am Vortag der Abreise auch der Feigenbaum, der Spätling, noch sein erstes Grün zeigt. Doch unter dieser Voraussetzung erschiene das Motiv des Gebetes (die „Oranten“, die „aufgehobenen Hände“) nur aufgepfropft und müsste dem Autor als einem Theologen und Bischof nachgesehen werden.1 Die Frage ist allerdings, ob hier wirklich durch den Zugriff der Frömmigkeit aus einem Feigenbaum einfachhin ein Beter wird.
Da ist zunächst der noch blattlose Feigenbaum, und dieser steht da, einem menschlichen Beter gleich, der allein und unerhört dasteht. Da sind sodann die zum Gebet erhobenen menschlichen Hände, und ihnen entsprießt – „am letzten Tag“ – gleich einem Feigenbaum im Frühling knospendes Grün. Beides aber ist durch die strophische Gliederung von einander getrennt. Eine platte Identifizierung findet nicht statt.
Hemmerles „Sardische Notizen“ sind fraglos fromm, aber deshalb nicht schon eine Sammlung „frommer Gedichte“. Religiöse Motive und biblische Metaphorik sind in den Gedichten zwar allgegenwärtig, aber nicht als solche wichtig. Wo sie sich in den Vordergrund drängen, was m. E. vorkommt, da ist auch das Ergebnis entsprechend. Doch im Kern ist die Frömmigkeit der „Sardischen Notizen“ eine Erfahrung der Kreatürlichkeit, und zwar einer Kreatürlichkeit, in der die Gattungsgrenzen niederlegt sind. Die Gedichte leben von einer urbildlichen Vertrautheit von allem mit allem – weil alles gut ist, weil aber auch alles verbunden ist in „Compassion“.
So werden die Grenzen zwischen „Kultur“ und „Natur“ fließend. Es ergeben sich Symmetrien und Spiegelungen, ja Spiele – und diese sind durchaus franziskushaft und überspringen dann auch unbefangen Grenzziehungen zwischen poetischer und religiöser Sprache.
Symmetrie
Wellenherden
ziehen zum Strand
mit Wogengeläut,
von Felsenhirten
behütet.
Wollenes Meer
schwappt über die Straße
glockende Gischt,
an den Wachtturm mit den freundlichen Augen
brandend.
Kirche San Francesco
I.
In den Nischen von San Francesco
werden Statuen Beter
und Beter Statuen.
Du siehst
Unbewegte den Himmel bewegen
und Bewegte
Ruhe finden.
[...]
Das Lamm
Was sollten wir tun?
Es lief uns nach, das Neugeborene,
ließ sich nicht von uns trennen.
Da stülpten wir
den Wanderhut
ihm über die zarten Ohren.
Im unversehenen Dunkel
die Nacht vermutend,
legt‘ es sich stracks zu Boden
und schlief ein.
Der Hirte kam,
es heimzuholen.
Solche Symmetrien und Spiegelungen und Spiele stehen und fallen aber damit, dass Freiheit waltet, dass ein Hiatus bleibt, und sei es nur die kaum merkliche Sprechpause, die der Text erfordert. Nicht Zugriff und Aufdringlichkeit nähern Mensch und Natur, Gott und Welt einander an, sondern eine „passive Synthesis“ (Edmund Husserl); und das zeigt „Nachmittag im Hafen“.
„Nachmittag im Hafen“ präsentiert zweifellos am Beginn der Gedichtsammlung die Stadt Alghero. Trotzdem ist dieses Gedicht mehr als ein „Titelfoto“. Es gibt an, worum die „Sardischen Notizen“ kreisen, und das ist nicht, was es zwischen Himmel und Erde gibt, sondern was sich zwischen Himmel und Meer, also zwischen zwei „Unermesslichkeiten“ zu sehen gibt – und was wie die Perle nie nur schön, sondern auch aus einer Verletzung hervorgegangen ist. Das Gedicht zeigt auch nicht nur, wie die Stadt sich dem Sehen des Sehenden (1. Strophe) und Hören des Hörenden (2. Strophe) darbietet. Vielmehr demonstriert es zugleich, dass sich demjenigen, der seinem Sehen und Hören wirklich etwas (sinnlich) geben lässt, zugleich zeigt, dass das, was gesehen und gehört wird, auch „verlautet“ (2. Strophe) und „schaut“ (3. Strophe).
Die Voraussetzung ist allerdings, der Wirklichkeit, die schaut, gewissermaßen nicht in die Augen sehen zu wollen, sondern sie schauen zu lassen „gegen Abend“.
Respekt ist gefordert – bis hin zur eigenen Verfremdung. Dann aber lässt die Wirklichkeit sich dabei zusehen, wie sie schaut.
In Ittiri
Frauen wie Wachttürme,
den Wurf des schwarzen Schleiers
um den Mund,
spähen aus Jahrhunderten her
dem Fremden zu.
Dann kann es geschehen, dass ich selbst Steine nicht nur sehen, sondern auch mir zublicken sehe.
Sehende Steine
Steine können sehen.
und du siehst es beim Aufstieg,
wenn sie dem mannshohen
Dickicht über die Schulter schauen
und dir verlorenen Mut
und verlorenen Weg
zublicken.
Und dann kann es zu einem nicht nur wiedererkennenden, sondern auch zu einem „sehenden Sehen“ (Max Imdahl) kommen.
Erinnerung
Wo die Berge Kronen tragen
aus Felsenhäusern
– wer hat sie aufgeschichtet? –,
wo die Schafe zweimal weiden
– wer hat sie steinern im Gestrüpp verstreut? –
da hebt sich in Verdacht und Ahnung
Erinnerung an nie Gewesenes.
Das Portal
Du hast nichts zu verschließen,
Reliquie zerfallender Mauerherrlichkeit
im wilden Garten.
Alles steht offen.
Und doch öffnest du,
Pforte zu dem,
was im Offenen verschlossen bleibt.
Angesichts der Frage nach dem Italienbild Klaus Hemmerles kann darauf verwiesen werden, dass es sogar von ihm in Italien geschaffene Bilder gibt und eine Sammlung von Gedichten, deren Sujets einzig und allein von der Stadt Alghero und seinem Umland genommen sind. Doch die Pluralität und die Gattungen dieser Zeugnisse machen es vielleicht nur umso schwerer, Aussagen über das Italienbild Hemmerles zu treffen. Was die Gedichte betrifft, so sind sie gewiss eine Hommage an die nördliche Westküste Sardiniens und an die Menschen, denen er dort begegnet ist. Es sind – wie sollte es anders ein – auch autobiographische Zeugnisse. Aber es sind, wenn es denn Gedichte sind, auch Texte, die ebenso viele Fragen aufwerfen, wie gegenstandlos machen.
Erzählt Klaus Hemmerle im folgenden Gedicht von seinen Besuchen in den pinettas, den Hüten der sardischen Hirten? Ist am Ende das Fokolar gemeint? Hat er an den berühmten Ausspruch des griechischen Philosophen Heraklit gedacht: Introite, nam et hic dii sunt? – Mag sein, aber zunächst einmal ist es eine Aufforderung, und zunächst einmal zum Lesen.
Gastfreundschaft
Tritt durch den Spalt,
atme die Ordnung,
lerne am Herd
die Würde des Gastes
und empfang
in der Fülle der Gaben
deren königliche:
anvertrautes Leid.
-
Einem Autor nämlich, der um die biblische Beziehung des Feigenbaums zur eschatologischen Reich-Gottes-Predigt Jesu und darin auch zum Gebet weiß; vgl. Mk 11,12–14 par. und 11,20–26 par. sowie Mk 13,28f par. ↩︎