Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Schellings Denken als ästhetisches Denken
Zu der kritischen Frage an Schelling, ob diese Analyse von Sein und Denken auf ihr immanentes Wollen zu dem Sein, dem Denken und der Ergriffenheit des Denkens von seinem Größeren erschöpfend gerecht werde, bleibt also die Gegenfrage zu stellen: Erschöpft die vorgetragene Deutung des Schellingschen Gedankens ihrerseits ihn selbst?
Diese Frage legt zunächst eine weitere Umkehrung nahe: Wir hatten, zur Ermittlung des voluntativen Grundzuges in Schellings Denken, gefragt, wie einem von seinem je Größeren ergriffenen Denken die Gestalt begreifenden Etwasdenkens unterlaufen könne. Nun müssen wir aber, aufs „Wollen“ als Grundzug Schellingschen Denkens aufmerksam geworden, im Gegenzug fragen: Wie kann einem wollenden und aus dem Wollen sich aufs „Etwas“ fixierenden Denken das es ergreifend und betreffend Andere sich antun?
In der Tat ist dies doch der „Unterschied“ der Spätphilosophie Schellings und dessen, was auf seinem Denkweg sie latent vorbereitet, zu dem Denken, von welchem sie sich selbst abhebt und gegen welches sie sich wendet: sie begreift Gott und seine freie beziehentliche Tat gerade nicht unvermittelt dem Ausgang des Denkens von sich selbst und der Rückkehr des Denkens auf sich selbst ein, sie erkennt vielmehr die „zweite“ Stelle des Denkens und die Differenz des göttlichen Gottes, der etwas „anfangen“ kann, zum Gott, der nur Selbstbegriff der Vernunft wäre. Wie ist solches nicht als äußerer biographischer Zusatz, sondern aus denkender Erfahrung und Bemühung her möglich? Wir haben uns nochmals an die Weise des Denkens zu wenden, die uns in Schellings Spätphilosophie begegnet.
Wenn wir „von außen“ an Schellings Denken herantreten, so kann uns eine doppelte Eigenart an ihm auffallen:
Eine Fülle von Phänomenen wird in ihm nicht nur verarbeitet, sondern auch gelichtet. Oftmals führten uns im Zug unserer Untersuchung die eigenen Analysen des Phänomens mühelos dorthin, wohin Schellings Aussage trifft.
Solches gilt vom Denken Schellings allgemein, besonders aber auch von der Spätphilosophie; sie thematisiert ja den Unterschied der faktischen, erfahrenen Wirklichkeit von der „abgeleiteten“ des [303] Gedankens, den „Überschuß“ von Freiheit und Tat über die Vernunftkonstruktion, die Differenz schließlich des Gottes, den die geschehende Religion so nennt, von dem philosophischer Systeme1. Trotz aller Willkürlichkeiten und Befremdlichkeiten darf hier doch auch die Verarbeitung so vieler mythologischer und biblischer Daten genannt werden, die oftmals gleichwohl von hoher intuitiver Kraft geleitet ist.
Die „Unmittelbarkeit“, mit welcher dem Gedanken Schellings die Phänomene sich geben und mit welcher er ihrem Angang geöffnet ist, bleibt indessen grundsätzlich an keiner Stelle in sich selbst stehen. Sie wird je übersetzt in einen systematischen Zusammenhang, in eine konstruktive Ableitung bzw. in das als solches erläuterte Verhältnis zum Denken als dem konstruktiv ableitenden Setzen aller Wasgehalte. Die phänomenale Genauigkeit bietet entweder, im Bereich erfahrbarer Dinge und Wesenszusammenhänge, der transzendentalen Ableitung die begleitende Kontrolle2 oder, im Bereich der „Freiheit“, des „Geschichtlichen“, den Anlaß, das Positive im nachhinein aus den Bedingungen seiner Möglichkeit als deren freie Folge abzuleiten3.
Diese Beobachtung der Konvergenz zwischen unmittelbarer Offenheit des Denkens fürs Angehende und seiner konstruktiven Aneignung und Ableitung führt uns einen entscheidenden Schritt weiter, wenn wir sie in ihre Wurzel hinein verfolgen: dorthin, wo das Denken für Schelling sich selbst zum Phänomen, wo es sich selbst „gegeben“ wird.
Die Unbegründbarkeit des Denkens durch sich selbst ist zwar Ergebnis der Selbstreflexion der Vernunft, wie wir bemerkten, aber eben Ergebnis einer Reflexion, in der „schauendes“, „erfahrendes“ Denken am Werk ist. Das Denken, das die Aporie des „Ist“ entdeckt, sofern dieses „Ist“ nur aus dem Denken kommt, ist mehr als bloßes Denken, als Denken, in welchem nur das ist, was aus ihm selber kommt. Wir bedachten bereits die Grunderfahrung der Entfremdung als Eröffnung der Möglichkeit dieses Denkens.
[304] Das Denken vollzieht seine Offenheit über sich hinaus, der sich das Unversehene antun kann, die weiter reicht als seine eigene immanente Möglichkeit, und so ist ihm inne, daß es Stätte des Aufgangs des GrÖßeren als es selbst ist, so ist ihm dieses Größere selbst als größer inne. Aber es ist seiner selbst als der Stätte dieses Aufgangs bewußt, ist das ihn in sich bergende Worin. Seine von diesem Aufgang übertroffenen Möglichkeiten sind jene, in denen er sich zuspricht und begibt. Dieses Denken ist also ineins hinaus über sich und ist das Worin seines Hinausseins über sich.
Das heißt für Schelling aber: Das Denken ist das „Material“, aus welchem es selbst sich erbildet als die Figur seines es Übertreffenden, es ist das Medium der Andersheit zum Unbedingten, in welchem das Unbedingte Gestalt gewinnt, in welcher Gestalt es als über ihr stehend offenbar wird und so sich als der göttliche Gott erweist. Die Gestalthaftigkeit als Bedingung, in und zugleich über der Gott als Gott aufgeht, steuert das Denken selbst bei, es ist so eben die „Weisheit“, das Wesen, auf die Gott blickend und in denen sich als in seinem Anderen erblickend Gott Gott ist, das „ἐξ οὗ“ nicht nur des welthaft Seienden, aus welchem dieses als aus seinem Voranfang konstruktiv gebildet wird, sondern auch das „ἐξ οὗ“ des Bildes, welches Gott als den göttlichen Gott offenbart, in welchem als in seinem Anderen er aufgeht, so aber gerade in sich selbst er selbst ist4.
Das Denken weist sich so aber aus als ästhetisches Denken – sowohl das Denken Schellings wie auch das Denken selbst im Verständnis Schellings dürfen mit diesem Namen gekennzeichnet werden. Was sagt er?
Das Kunstwerk, der Bereich des Ästhetischen spielte, wie erwähnt, in Schellings Frühzeit eine entscheidende Rolle. Der vielfältige Gedanke hierzu sei in freier Weise auf eine Grundgestalt reduziert: Der unbedingte Ursprung, die absolute Identität, der absolut anfänglich setzende, aus sich hervorgehende geistige Akt schlägt je schon dahinein um, etwas und so gerade nicht sich selbst an sich selbst vor sich selbst zu setzen. Im Objekt, in der Spiegelung der Andersheit geht alles auf, was der Ursprung in sich birgt, nur [305] nicht seine Ursprünglichkeit. Und gerade sie zu setzen, sie vor sich zu bringen ist der immanente Wille der Ursprünglichkeit. Die Lösung bringt das Ästhetische, das Kunstwerk: es ist das Andere des Ursprungs, ist Objekt, aber Objekt, das gerade in der Weise seines Objektseins nicht nur sich selbst, sondern mit sich selbst das Andere seiner meint, es aufgehen läßt über sich, in seiner ihm zukommenden immanenten Notwendigkeit gerade das grundlos, frei, original aus sich Erstrahlende, also: die Ursprünglichkeit des Ursprungs wiedergibt, ihn im Medium der Andersheit wieder-holt5.
Nach der Zeit des Identitätssystems tritt die Ausdrücklichkeit des Ästhetischen in den Hintergrund. In der Spätphilosophie wird indessen durch die Selbstreflexion des Denkens in seine eigene mediale Ursprünglichkeit hinein der frühe Gedanke des Ästhetischen der Sache nach um eine radikale Stufe weiter hinter sich selbst reflektiert. Das Denkende des Denkens, seine eigene Ursprünglichkeit, Vernunft schlechthin werden verstanden als das Kunstwerk, als die „Gestalt“ Gottes, als sein Anderes und sein Worin zugleich. Im Denken als dem ewig Zweiten kommt das ewig Erste zu sich, d. h., es kommt über die Zweitheit des Denkens und über seine eigene sich selbst starr sich entziehende bloße Erstheit hinaus und so zu seiner absolut anfänglichen Freiheit und Göttlichkeit. Auf diesem deutenden Hintergrund erhalten Schellings Ausführungen über die erste Potenz, über die Ur- und Allmöglichkeit erst ihren vollen Glanz und Rang.
So aber übersetzt und modifiziert sich unsere vorher gewonnene Interpretation des Denkens bei Schelling und Schellings selbst als wollenden Denkens in neue Konturen. Schelling denkt das Denken als wollendes Denken, es ist so vergegenständlichendes, ist Etwas-Denken. In seinem Etwas blickt es aber übers Etwas hinaus, es vollendet sich als Denken der allem Etwas vorgängigen und über ihm aufgehenden Freiheit zu allem Etwas in der positiven Philosophie. Das „Etwas“ wird zum sich transzendierenden Reflex auf die Freiheit, mehr noch: der Freiheit auf sich selbst.
Schelling will also das Absolute fassen, gestalten, denkend einholen, einholen aber nicht auf die Weise aufarbeitenden Einbegrei- [306] fens, sondern so, daß dabei seine Überlegenheit übers Etwas im Etwas aufgeht. Die auf befremdliche Weise „etwas“ sagende Form, in welcher er z. B. in der 13. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung über Gott spricht, der erst durch den Aufgang der Möglichkeit des Anderen, durch ihren Einfall „zu sich“ kommt6, muß demnach eben ästhetisch, muß als das Gemeinte im Medium der Andersheit sagend verstanden werden.
Gleichwohl bleibt die Frage: Wenn auch das Denken in der Tat das Vorbringen seiner Sache in ihr Erscheinen, also über sich hinaus in ihre Andersheit ist, erschöpft dieses Verständnis das Denken? Ist das poietisch das Andere des Denkens im Denken ebenso wahrende wie doch bannende Wollen des Denkens sein letztes Wort? Kann das Werk, das es erbringt, auch wenn es mehr als „bloßes“ Werk, wenn es im Werk vollbrachter Widerschein des über es Aufgehenden ist, das reine Sich-Geben der Anfänglichkeit der Wahrheit, kann es gar den göttlichen Gott fassen? Muß das letzte Wort des Denkens, sein Wort vor Gott, nicht vielmehr selbst nur Wort, nur hörende, aus dem Schweigen ins Schweigen bereite Antwort sein, Wort, das nur als Anrede „bleibt“?
Denken, das zugleich das Kunstwerk seiner selbst und das Kunstwerk Gottes selbst ist, das die Übereinkunft seiner Gewähr aus Gott und seiner antwortenden Ursprünglichkeit aus sich selbst in sich festhält und aufstellt, vermag nicht die Beziehung von Ich und Du, von Anspruch und Anrede, es bleibt noch auf sich entgehende Weise hinter sich zurück.
Wenn für Schelling der „unzweifelhafte Charakter“ der Philosophie „darin besteht, die reinste Prosa und völlig anschauungslose , so steht dies nicht im Widerspruch zu un- Nüchternheit zu sein7, so steht dies nicht im Widerspruch zu unserem Verständnis seines Denkens und seiner Deutung des Denkens als „ästhetischen Denkens“. Nicht in einer dem Denken äußeren Form, sondern in seiner fundamentalen Funktion, das sich und ihm unmittelbar entgehend absolut Ursprüngliche im Medium der Andersheit, d. h. gestaltend, zu sich einzuholen, liegt der „ästhetische“ Grundzug. Ihn erkennt Schelling auch noch im Spätwerk an, [307] wo er fürs Bilden des „Systems“ ein „künstlerisches Gefühl“ erforderlich sieht8.
Das „ästhetische“ Denken der Schellingschen Spätphilosophie bezeichnet so in der Geschichte des Denkens einen Aufbruch des „wollenden“, am Etwas orientierten Denkens über sich hinaus. Indem dieses Denken das es Angehende, Betreffende und Ergreifende aber gestalten, ihm seine Gestalt geben will, wird es nochmals vom Maß der Beziehung und des Ereignisses abgedrängt.
Wo die Gestalt des denkenden „Habens“ Gottes dahinein umgedacht wird, daß sie Gestalt der Geduld, des Aushaltens Gottes im Denken beim Denken bedeutet – wir sprachen davon –, dort berührt solches Denken sein Maß; darin waltet Beziehung: daß das Gedachte des Denkens das Gehörte, Geduldete des sich ihm Zudenkenden, daß es so Ereignis unableitbarer Übereinkunft wird.