Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Schellings Denken als wollendes Denken
Schellings Entwurf des Denkens mündet in die eigentümliche Zweiheit von Sein und Denken1. Sie stellen ihm nicht mehr auseinander ableitbare constituentia des göttlichen Gottes, seiner sie einander zuspielenden und so über ihnen freien absoluten Freiheit dar. Nur in ihr findet sich ein „Ort“ für die als „höchstes Gesetz“ dennoch durchgehaltene „Notwendigkeit“ des „Eins-seins von Denken und Sein“2.
[297] Der Weg des Denkens, der hierher führt, ist bekannt: Denken gewahrt seine mediale Verwiesenheit auf das erst in ihm, in ihm aber als das vorgängig Erste aufgehende Sein. Es legt seine Ergriffenheit vom Undenklichen, seinen Zeugnischarakter fürs Undenkliche, der in der Unbegründbarkeit des Denkens durch sich selbst aufbricht, aus als Verweis der Potenz auf den Akt. Es deutet sich als Potentialität, das ihm absolut Vorgängige als reine Aktualität. So aber wird es einsinnig, Potenz des absoluten Aktes, die sich nicht aus ihm und die er nicht aus sich ableiten kann, die, ihm zu-fällig, ihn dennoch erst über sich hinaus öffnet und lichtet. Indem es sich also aus dem Wissen seiner Nachträglichkeit heraus in die Konstitution Gottes hineinträgt, indem es sich als sich denkendes Denken Gottes denkt, sprengt es gerade die Einheit von Denken und Sein auf in die Zweiheit aufeinander nicht zurückführbarer, aber aufeinander verwiesener constituentia der absoluten Einheit.
Wie aber sind Denken und Sein aufeinander verwiesen, was ist der eine Horizont, in dem sie füreinander vorkommen, nacheinander verlangen? Es ist eben der Horizont des „Verlangens“, des Wollens. Denken ohne Sein ist ohnmächtig, es ist Verlangen nach Sein, Sein ohne Denken ist ohne Vorkommen, ohne Hinauskommen über sich, es will aber sein, drängt also ins Vorkommen für sich, drängt übers bloße Sein hinaus. Beide, Denken und Sein, sind phänomenal darin eins, daß sie in sich selbst und im Bezug aufeinander als wollend und als gewollt vorgestellt sind: Jedes will das Andere seiner und darin sich selbst, jedes ist so das Gewollte seines Anderen und darin zugleich seiner selbst.
Die Deutung von Sein und Denken zugleich als Wollen ist nicht willkürlich. Indem das Denken zu denken beginnt, meint es, was ist, will es also, was ist, und will so gerade sich, denn es ist selbst, als Denken, Aussein aufs Sein. Etwas ist aber fürs Denken nur, wenn es sich als nicht bloß gedacht bewährt, sich also durchhält im Denken gegen das Denken, ihm widerständig ist. Nur was sich ins Denken mitbringt, also bewahrt, also sich will und zugleich darin doch auch das Denken „will“, eben sich ihm läßt oder gibt, „ist“.
Denken und Sein sind im Denken, „sind“ also überhaupt nur als je sich und je einander wollend. Dies ist die Eigentümlichkeit des Wollens, das wahrhaftes Sein und wirkliches Denken kennzeichnet:
[298] Das wahrhafte Sein hält sich selbst durch „gegen“ das Denken und läßt sich selbst darin zugleich dem Denken, es verschwindet dem Denken nicht ins nichtige Nichts, sondern schenkt sich ihm, kann sich ihm aussetzen, denn es ist ja, hat sich also, indem es sich denken läßt; das wirkliche Denken will sich, indem es nicht nur sich will, sondern sich wegwendet dem zu, was ist, es verliert sich nicht in dem, was ist, gewinnt sich vielmehr erst dort; denn wenn es nur sich will ohne das, was ist, wenn es nur sich entwirft, bleibt es gerade an sich selbst leer.
So übersteigt das Wollen als Grundzug des Seins wie des Denkens die Begrenzung bloßen Wollens, d. h. die Fixierung des Wollens auf sich selbst, das Wollen vollendet sich in der Gelassenheit von Sein und Denken aneinander, also in der von beiden und so von sich selbst, vom Wollenmüssen freien Freiheit.
Das hier phänomenal unmittelbar aus den Elementen des Schellingschen Gedankens Erhobene bestätigt sich an seinen Texten allenthalben. Es genügt, auf einige uns bereits vertraute leitende Motive in ihnen hinzuweisen: Die Reflexion auf den Sinn und die Aufgabe der Philosophie mündet immer wieder in die Erhellung eines Wollens: die Vernunft will sich selbst, ihren Inhalt gewinnen, aber so, daß er ihr unentreißbar und gewiß wird3; die Vernunft will das Sein von allem ergründen, sie will, was vor dem Sein ist, d. h. vor dem wirklichen, gewordenen Sein, was so erst eigentlich und wahrhaft ist4; sie will also das Zugleich des Seins und ihrer selbst, will ein mit Vernunft und Voraussicht gesetztes Sein, sie will Weisheit, ist Philo-sophie5.
Darin wird das Denken selbst als ein Wollen seiner selbst im Wollen seines Anderen bzw. als ein Wollen seines Anderen im Wollen seiner selbst gedeutet, und so sind die den Inhalt der Vernunft entbergenden Grundbestimmungen des Denkens an sich selbst „voluntativ“ – die Darstellung der Potenzen im Ursprung aus dem reinen Denken hat uns das bereits gezeigt6. Der voluntative Charakter der Potenzen ist indessen gerade jenes
Das Denken [299] an ihnen, worin ihr Hinblick aufs Denken und ihr Hinblick aufs Sein übereinkommen: Sein selbst ist Wollen. „Kein wirkliches Sein ist ohne ein wirkliches, wie immer näher modifiziertes, Wollen denkbar. Daß irgend etwas ist, also das Sein irgend eines Dinges erkenne ich nur daran, daß es sich behauptet, daß es anderes von sich ausschließt, daß es jedem anderen, in es einzudringen oder es zu verdrängen Suchenden Widerstand entgegensetzt. Das absolut Widerstandlose nennen wir Nichts. Was Etwas ist, muß widerstehen. Das Wort Gegenstand selbst, mit dem wir das Reelle in unserer Erkenntnis bezeichnen, sagt eigentlich nichts als Widerstand oder ist ebensoviel als Widerstand. Widerstand aber liegt eigentlich bloß im Wollen.“7
Der zitierte Text schließt sich zwar einer Erörterung der ersten Potenz an. In ihr und gerade in ihrem voluntativen Charakter urständet aber nicht nur das gewordene, aktualisierte Sein, in ihr vollbringt das Denken sich selbst, sein Wesen selbst auf anfängliche Weise – Verstand ist nichts anderes als „das in sich selbst zurückgebrachte, sich selbst besitzende, seiner selbst mächtige Wollen“8 und spiegelt sich ebenso anfänglich das unvordenkliche Sein selbst. So ist das Subjekt, die Potenz, das Denken schlechthin jenes, was als die anfängliche „Magie“ das unvordenkliche Sein an sich zieht9, ist aber auch der Actus des unvordenklichen Seins an sich „Wollen“, Anziehen des es lichtenden Seienden, des πᾶν10, als Wesen. Durch den Einfall des wollbaren Anderen in der ersten Potenz „wird er sich als Wille, als der wollen kann, inne11 Das voluntative Konzept von Sein und Denken ist nicht erst der Spätphilosophie eigen. Die leitende Intuition der Naturphilosophie, die der sich durch alle Stufen hin objektivierend-setzenden und wieder zu sich einholenden Subjektivität, die entsprechenden Bewegungstendenzen, in denen das System des transzendentalen Idealismus alle Gehalte und ihren Zusammenhang ableitet, der über das Identitätssystem hinausdrängende bzw. es vollendende Ansatz der Freiheitsschrift und zumal die Weltalterphilosophie mit ihrer Er- [300] örterung der verschiedenen „Willen“ im Absoluten12 seien hier hinweisend vermerkt.
Was nun bedeutet Schellings voluntative Interpretation von Sein und Denken in der Ausprägung der Spätphilosophie? Inwiefern verfremdet sie die Grunderfahrung der Ergriffenheit des Denkens ins unbeziehentliche Etwasdenken?
Es scheint gar nicht zu umgehen, im Denken ein Wollen seiner selbst und seines zu Denkenden am Werk zu sehen und im Sein die Identität von Gabe und Widerstand als den Bezug aufs Denken zu gewahren, Sein demnach als sich und das Denken wollend zu verstehen. In der Tat „stimmt“ die solcher Deutung zugrunde liegende Analyse der Phänomenalität von Sein und Denken. Aber es bleibt zu fragen, ob sie Sein und Denken erschöpfe, und mehr noch, ob sie das erschöpfen könne, was dem Denken in seiner Ergriffenheit vom Größeren seiner selbst sich gewährt.
Wir fragen also: Ist alles gesehen, wenn solches gesehen ist? Diese Frage kann nicht abgewiesen werden, und sie enthüllt bereits in sich selbst einen das Gesehene übertreffenden Grundzug des Denkens. Was das Denken „hat“, bleibt ihm je positiv in Frage zu stellen. Nicht um es abzutun – denn was es erkannt hat, das hat es erkannt –, sondern um sich je neu und tiefer offen und bereit zu halten für den Aufgang der uneinholbar größeren Wahrheit im Ganzen. Das Denken will sie und will sich, aber es will sie ohne Hoffnung auf ihr eigenes Haben, sondern nur in der Hoffnung auf der Wahrheit eigenes, vom Denken her unabschließbares Sich-Geben. Die Bereitschaft anzunehmen, was ist und wie es ist, die Bedingungslosigkeit der Wahrheit gegenüber, ihrem Aufgang aus sich selber zu: dies ist die unüberbietbar erste Gestalt des Wollens, das im Denken lebt, wenn anders es in Wahrheit, und das heißt: angesichts der Wahrheit, Denken sein will.
Das Urverhältnis des Denkens zur Wahrheit ist nicht das, vergegenständlichend sie und sich zu wollen, sondern ihrer gewärtig zu sein. Die Wahrheit kann und darf sich ihm antun, wie sie will. Das ihren Anspruch und Zuspruch vernehmende Denken kann [301] sich so nie aus der Rolle des empfangenden Partners abstrahieren in die des konstituierenden Moments der Wahrheit selbst, die Drehung des Denkens um die Achse des Verhältnisses zur Wahrheit, um von ihr her, „vom Prinzip her“ ableitend zu denken, bleibt ihm verwehrt. Doch gerade indem es so niemals Ausdenken der Wahrheit werden kann, das nur quantitativ hinter seiner Vollendbarkeit zurückbleibt, gibt sich ihm das zu denken, was das Ausdenken gerade nicht erreicht: geschehende Beziehung zur Wahrheit selbst und in der Wahrheit selbst, Aufgang der Wahrheit rein aus sich aufs Denken zu. Und in solchem Aufgang vermag sich ihm allein auch der göttliche, partnerische Gott als solcher zu schenken.
Die Struktur, in welcher das Denken das Sich-Geben der Wahrheit verfaßt, macht dieses Sich-Geben zwar je zu einem Sich-Geben-den; in ihr vergegenständlicht also, „hat“ also das Denken, was es denkt. Doch nur wenn es „hat, als hätte es nicht“13, bleibt es dem sein Haben übertreffenden Geben gegenüber in der Entsprechung. Seine reflexive Aufgabe ist wesentlich „negativ“: es hat die im Gegebenen offenbare Verfremdung des Sich-Gebens zu bedenken, nicht um ableitend zu begreifen, wie das Sich-Geben an sein Gerinnen zur Gabe als Bedingung seiner selbst gebunden sei, sondern um in solchem Gerinnen zur Gabe den Aufgang des Sich-Gebens zu verdanken.
Gerade die positive Philosophie, die, der Unvollendbarkeit ableitenden Sich-Erdenkens des Denkens inne, es auf seinen gewährenden Ursprung bezieht, sinkt hinter das Maß dieser Beziehung zurück, indem es begreifen wollend sie doch nur wieder sich selbst einbezieht. Das Verhältnis kehrt sich so um: Statt das ins begreifende Haben mündende Wollen des Denkens als Durchgangsmoment in den andenkend-gewärtigen Hinblick des Denkens zu vermitteln, vermittelt der Gedanke sein Innesein der unerstellbaren und unablösbaren Bezogenheit zurück ins wollende Begreifen.
Inwiefern dieses Urteil und die Charakterisierung als „wollendes“ Denken selbst nur vorläufig Schellings Spätphilosophie bleibt indessen noch zu erörtern.
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Vgl. XI 331. ↩︎
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S. XI 587. ↩︎
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Vgl. XIII 66–70. ↩︎
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Vgl. XIII 66–73, 204. ↩︎
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Vgl. z. B. XIII 200–203, 93, 131. ↩︎
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Vgl. XIII 205–207, 212–213, 219–221. ↩︎
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XIII 206. ↩︎
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XIII 300. ↩︎
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Vgl. XIII 231/32, hier allerdings bezogen auf das Verhältnis der ersten zur zweiten Potenz, im Blick auf Gott hingegen: X 264/65 und XIII 269, 273/74. ↩︎
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Vgl. XIII 174. ↩︎
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XIII 268. ↩︎
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Vgl. Schulz, a. a. O. 112–115, zur „Periodisierung“ der Schellingschen Entwicklung. ↩︎
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Vgl. 1 K 7, 29–31. ↩︎