Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Schellings Verhältnis zur gestellten Frage

Ehe das Mitdenken den Gang seiner Frage antritt, liefert es seine Frage selbst nochmals der Begegnung mit Schelling aus: Könnte die Frage nach der Weise des Denkens in ihrer erarbeiteten Richtung [32] und Gestalt auch Schellings Frage sein, und wenn nicht, warum nicht, und wenn in etwa doch, dann wie und warum gerade so?

Die Antwort hierauf kann gemäß erst aus dem noch ausstehenden Verständnis der Denk-Weise Schellings gewonnen werden. Gleichwohl ist es wichtig, schon anfänglich auf Nähe und Abstand der Voraussetzungen aufmerksam zu sein, die das Mitdenken zu seiner Frage und das mitzudenkende Denken zu seiner eigenen Weise bringen.

An einem Punkt seiner Entwicklung, kurz vor ihrem Umschlag in die ausgeprägte Spätphilosophie berühren sich Schellings Gedanken mit denen unserer methodischen Vorüberlegung des Mitdenkens: in den Erlanger Vorlesungen „über die Natur der Philosophie als Wissenschaft“1.

Hier wird das menschliche Denken zu einem radikalen Lassen alles Wissens angewiesen2, um sich ekstatisch3 in das Prinzip4 alles Wissens einzuschwingen: in die absolute, ewige Freiheit5, die nicht dies und jenes ist, nichts Definibles, sondern jenes, „das durch alles geht und in nichts bleibt“6, frei von allen Gestalten und so gerade auch frei zu allen Gestalten7, „Weisheit“8, die sich urständlich nicht weiß, sich wissen wollend in den Zug der Gestalten eintritt, in ihnen, in der Gegenständlichkeit aber gerade die Urständlichkeit, das Nicht-dieses-oder-jenes-Sein wissend verfehlt und so aus den Gestalten ins anfängliche Nichtwissen zurückkehrt, das jetzt aber wissendes Nichtwissen geworden ist9. Dieses Sich-Wissen der ewigen Freiheit als des nicht Wißbaren geschieht im Menschen, in seinem Aufgeben individuell haben wollenden, „wissenden“ Bewußtseins ins „freie Denken“10, das der im Wissen gerade vergessenen anfänglichen Freiheit des Urbewußtseins gedenkend wieder inne wird11.

Die Differenz der Weisen des Denkens zu seinem Wesen, das Entgehen des Wesens in der je begrenzten Gestalt seiner Anwesenheit im Denken scheinen hier auf. Und doch: ist hier im selben Sinne die [33] „Geschichtlichkeit“ des Denkens gemeint, wie sie sich uns im Beden­ken des Mitdenkens bezeugte?

Gewiß, Schelling ist bedrängt von der Geschichte des Denkens, von der Vielheit philosophischer Systeme, die nicht in äußerem Kampf oder innerlich aufrechnendem Rechthaben in ihre Wahrheit zu bringen sind12. Aber das durch sie durchgehende und doch in ihnen nicht stehenbleiben könnende eine Geschehen des Denkens, in dem sie als Momente und Perspektiven seiner Wahrheit „zusammenbestehen“13, erscheint ihm als das System: nicht System, das auf irgendeiner selbstbegrenzten Voraussetzung und auch nicht auf der bloßen Negation solcher Voraussetzung beruht, sondern eben auf dem, was „in allem ist und in nichts bleibt“14, von dem, schärfer noch, gilt: „durch alles durchgehen und nichts sein“15. Es ist System, das zum „Prinzip“ und „Subjekt“16 die Freiheit selbst hat, Freiheit nicht als „Eigenschaft“, „sondern die Freiheit ist das Wesen des Subjekts, oder es ist selbst nichts anderes als die ewige Freiheit“17.

Was Schelling denkend gewahrte und was ihn hier, was ihn aber auch auf entsprechende Weise in der großen Epoche seines Identitätssystems bewegte, ist das überall und Nirgends des Absolutum, der Wahrheit im Denken zum einen und zum andern das unfaßbare, je neu aufbrechende und doch das Gesamt der Denkgeschichte durch­ waltende Ereignis des Denkens als die Stätte, an der sich dieses überall und Nirgends und in ihm die Wahrheit selbst begibt.

Indem Schelling aber sich bemüht, dieses Wahrgenommene in der Behutsamkeit einer Aussage zu wahren, die sich als das Lassen aller bestimmend-definierenden Verengung und Fixierung des Unsäglichen versteht, unterläuft ihm doch die festlegende Verfremdung des Wahrgenommenen: es als das System in den vielen Systemen aufzustellen, macht das System gerade zu nur einem System. Die verengende Festlegung geschieht dreifach: 1. Die Einheit des Denkens, die Durchgängigkeit seines Geschehens wird als „Bewegung“ im Sinn von „Entwicklung“ gedeutet18. 2. Als Entwicklung gedeutet, erfordert sie ein eines, einheitliches „Subjekt“ oder „Prinzip“19. 3. Als Entwicklung eines Prinzips ist sie das Streben, sich zu sich [34] einzuholen, es wiederherzustellen20, das Prinzip wird also als sich „wollend“ und „vermögend“ verstanden21.

So ist in Schellings Gedanke zugleich das gegenwärtig , was sich unserem Mitdenken als die Geschichtlichkeit des Denkens artikuliert, und entzieht sich diese Geschichtlichkeit, die Unabschließbarkeit und Unableitbarkeit des Gesprächs der Weisen des Denkens, doch in die Geschlossenheit eines Systems, in welchem ein Subjekt sich darstellt, sich zu sich einholt und vollendet.

In der Spätphilosophie selbst wird zwar die Einheit des absoluten Subjekts der Erlanger Vorlesungen zur Zweiheit von Denken und unvordenklichem Sein entflochten22, das Denken selbst bleibt gleichwohl auch dort in der bereits hier skizzierten Grundstellung: es bleibt das Denken, das seine eine Wahrheit letztlich auch in eine wesenhaft einzige und einsam selbige Grundgestalt seiner selbst hinein vollbringt.

Um so drängender wird die Frage, welches die Weise dieses Denkens sei, das zwei Antlitze zeigt: das eine der Geschichtlichkeit, der Endlichkeit des Denkens, das andere dem System, der Vollendbarkeit seiner selbst in sich selbst zugewandt. Dieser erste Vergleich unserer mitdenkenden Frage mit dem Denken Schellings gibt außerdem einen Hinweis auf die Phänomenfelder, aus denen Schellings Denken im ganzen erwächst:

  1. Es geht, dies bestätigt der kurze Blick auf den Text „Ober die Natur der Philosophie als Wissenschaft“, in Schellings Gedanken um das Denken selbst.

  2. Doch sowohl die Weise, wie das Denken hier geschieht, als auch die Thematik, die sich kraft dieser Weise im Denken durchsetzt, ist bestimmt vom Grundzug des „Wollens“: einmal ist der Einstieg ins wesentliche Denken „freie Geistestat“23, als Lassen alles Wissens und Wissenwollens gerade selbst der wollenden Entscheidung anheimgegeben24 ; zum andern aber schwingt solches Sich-Lassen sich gerade ein ins Selbstgeschehen der „ewigen Freiheit“, in dem sie sich, ihre anfängliche Lauterkeit und Unwillentlichkeit, sucht, also gerade: will.

  3. [35] Das Sich-Suchen der ewigen Freiheit führt schließlich in die Phänomenwelt des Asthetischen, die für Schellings Frühzeitthematisch außerordentlich bedeutsam war und dies, trotz beständig abnehmender Ausdrücklichkeit, für die Struktur und Eigenart seines späteren Denkens bleibt. Der ästhetische Akt ist gestaltender Akt, die ästhetische Gestalt aber ist gerade nicht nur ein begrenztes, dinghaftes „dieses da“, sondern das Sich-Vollbringen des nie Ding werden Könnenden, des Unbedingten in die Vorstelligkeit hinein25. Wir gewahren die Verwandtschaft zum soeben nachgezeichneten Gedanken Schellings: Die ewige Weisheit verfehlt und sucht doch ihre Urständlichkeit in der Gegenständlichkeit des Wissens und findet sich schließlich im Menschen, der in seinem sich lassenden Denken das Zugleich von gewordener Gestalt und entwerdendem Ereignis bedeutet. Die Orientierung der Frage nach dem Denken bei Schelling selbst führt über die Frage nach dem Denken hinaus und heißt uns sein Denken als denkendes, als wollendes und als ästhetisches Denken bedenken.


  1. 1821, IX 210–246. ↩︎

  2. 229, 217 f. ↩︎

  3. 229 f. ↩︎

  4. 215. ↩︎

  5. 220. ↩︎

  6. 216. ↩︎

  7. 219 u. 220. ↩︎

  8. 223 f., 243/46. ↩︎

  9. Bes. 230–233. ↩︎

  10. 235. ↩︎

  11. Vgl. 236. ↩︎

  12. Vgl. 209–215. ↩︎

  13. 213. ↩︎

  14. 215. ↩︎

  15. Ebd. ↩︎

  16. Ebd. ↩︎

  17. 220. ↩︎

  18. 215. ↩︎

  19. Ebd. ↩︎

  20. Bes. 226, 237. ↩︎

  21. 220, 221/23. ↩︎

  22. Vgl. den Ansatz hierzu bereits in unserem Text IX 236 f. ↩︎

  23. 228. ↩︎

  24. Vgl. 217 f., 228 f. ↩︎

  25. Vgl. III 612–629. ↩︎