Lerne am Herd die Würde des Gastes

Schönem begegne ich auch anderswo

Zweimal hat Klaus Hemmerle mit leitenden Bistumsmitarbeitern eine Art Studienreise nach Rom unternommen. Die zweite dieser Romfahrten zusammen mit den Mitgliedern der Ordinariatskonferenz sowie den Regionaldekanen und Regionalpfarrern im Bistum Aachen fand vom 28. September bis 4. Oktober 1986 statt, d. h.: zwei Wochen nachdem in Aachen die Heiligtumsfahrt und in Zusammenhang damit der 89. Deutsche Katholikentag stattgefunden hatte.1

Das Jahr 1986 bildete im Episkopat Hemmerles eine gewisse Zäsur. Er hatte mit der Einladung des Katholikentages nach Aachen2 die Hoffnung verbunden, dass es sowohl im deutschen Verbandskatholizismus3 als auch im Bistum Aachen zu einer offensiveren Auseinandersetzung mit der Frage käme nach der Zukunft der Pastoral, ja christlichen Lebens überhaupt unter den Bedingungen der Gegenwart.4 Einen nachhaltigen Impuls dazu hatte er sich durch die Verbindung der beiden so unterschiedlichen Großveranstaltungen versprochen. Dass es durch den Überschuss der Aachener Heiligtumsfahrt dem Katholikentag gegenüber: ihre symbolisch begangene Besinnung auf die Ursprünge des Christlichen, und durch den Überschuss des Katholikentags der Heiligtumsfahrt gegenüber: seine Überschreitung der Ortskirche auf die Gesellschaft hin, zu einer wechselseitigen Perspektivenerweiterung käme, das war seine Idee gewesen.

Allerdings hatte sich schon in der Vorbereitungszeit gezeigt, dass dieses Anliegen im Bistum Aachen nicht ohne weiteres geteilt oder verstanden wurde, sondern der Katholikentag bisweilen eher als eine Gefährdung der Heiligtumsfahrt erachtet wurde. Trotzdem oder vielleicht eben deshalb dürfen in das Jahr 1986 die Anfänge jenes Bemühens Hemmerles datiert werden, die 1989 in den Versuch mündeten, unter dem Leitwort der „Weggemeinschaft“ einen diözesanen Dialogprozess zur Zukunft der Pastoral im Bistum Aachen in Gang zu setzen.5 In diesen Zusammenhang fügen sich aber die Romfahrt von 1986 und ein Brief ein, den Hemmerle ein Vierteljahr später an die anderen Teilnehmer bzw. „Mitpilger“ richtete.6

Der Brief,7 der etwas mehr als 2.300 Wörter umfasst und die Datumsangabe „Januar 1987“ trägt, gliedert sich in vier Teile: In einer Einleitung bringt Hemmerle sein Anliegen zum Ausdruck, dass die „gemeinsame Erfahrung“ von Rom „nicht folgenlos bleiben“ dürfe. Er wolle zwar „nicht den ‚Geist von Rom‘ beschwören, nicht neue Programme inszenieren, wohl aber an Nachdenklichkeit und Gespräch anknüpfen“; und dies unternimmt er in drei Schritten bzw. Kapiteln, die eigene durchnummerierte Überschriften tragen:

„A. Mir besonders wichtige Erfahrungen und Begegnungen“,
„B. Mir besonders nachgehende und in mir weiterwirkende Erkenntnisse“,
„C. Impulse für die eigene Arbeit und fürs Bistum“.

Diese Kapitel sind wiederum in je fünf mit arabischen Ziffern nummerierte Unterabschnitte gegliedert. Zwar vermerkt Hemmerle in seiner Einleitung, dass damit keine Parallelisierung der Unterabschnitte angedeutet werden soll – es stehe, so schreibt er, der um seinen systematisierenden Zugriff weiß und auch darum, wie wenig das von seinen Mitarbeitern geschätzt wird, „keine systematische Attitüde hinter dieser Gliederung“ –, doch ist der Brief insgesamt systematischer konzipiert, als er hier zugibt.

Hemmerle erinnert an Orte, Kirchen, Zentren und Stadtteile, die die Reisegruppe besucht hatte, und an Personen und Personengruppen, denen sie begegnet war. Dies geschieht vornehmlich im ersten Kapitel.

Erwähnung finden so: San Lorenzo in Lucina, Santa Sabina und San Clemente (A.1), San Ignazio, Il Gesu, Santa Maddalena (A.2), das Jugendzentrum San Lorenzo (A.3); die Kommunitäten der Kleinen Schwestern in Tre Fontane und der Schervier-Schwestern [der Armen-Schwestern vom hl. Franziskus, einer Aachener Gründung] in Ciampino (A.4), die Gemeinschaft von Sant‘Egidio (A.4); die Bischöfe [Clemente Emilio] Riva [(1922–1999), Weihbischof in der Diözese Rom] und [Paul-Josef] Cordes [seinerzeit noch Vizepräsident des Päpstlichen Rates für die Laien] sowie die Professoren [Heinrich] Pfeiffer [SJ, Professor für christliche Kunstgeschichte an der Pontificia Università Gregoriana] (B.2) und Piero Coda [Professor für systematische Theologie an der Pontificia Università Lateranense] (A.5).

Bemerkenswert ist: der Petersdom wird nicht genannt, obwohl er besucht worden war;8 und wenn der Text auch kein Reisetagebuch darstellt, so ist doch auffällig, wie sehr das von Klaus Hemmerle zusammengestellte Besuchsprogramm sich vornehmlich auf die Stadt Rom und – trotz der Besuche historisch bedeutender Kirchen – letztlich auf das zeitgenössische Rom konzentrierte.

Woran Hemmerle in seinem Brief nochmals anknüpft, das sind denn auch Beobachtungen, die nicht ein ästhetisches Interesse zutage gefördert haben. Den ästhetischen Blick wolle er zwar nicht missen, versichert er, und Schönem begegne er in Rom auch „sehr intensiv“, doch sei ihm diese Erfahrung „auch anderswo“ gegeben (A.1). Was für ihn an der Stadt Rom so bedeutsam ist, dass er es seinen Mitarbeitern zeigen wollte, das sind hingegen Stätten, an denen (noch) ablesbar ist,

  • dass die Herkunft der späteren Basiliken bzw. der Kirche in ihrer Konstantin‘schen Gestalt christliche Hausgemeinschaften sind (B.1),
  • dass die „Wahrung der Ursprünge [...] pervertierbar [ist] in eine Ideologisierung und Sicherung eigener Machtinteressen“ (B.2),
  • und dass nichts eine Säkularisierung so sehr befördert als der Versuch einer klerikalen Bevormundung der Gesellschaft (B.3).

Und worüber er mit seinen Mitarbeitern im Gespräch bleiben will, das sind die in den besuchten Personen und kleinen Gemeinschaften entdeckten Voraussetzungen glaubwürdiger christlicher Lebensgestalt heute:

  • ein „neuer Typ von Frömmigkeit“, der „weder in der konstitutiven Mißstimmung kritischen Unbehagens noch in der Militanz seiner eigenen Rechtgläubigkeit erstarrt“, sondern „unbefangen ist gegen den Ursprung und gegen die Tradition“, ohne deshalb „fundamentalistisch“ zu werden (C.4, vgl. B.4);
  • ein Ernstnehmen des „gegenseitigen Überschusses“ von Amt und Charisma und in der Konsequenz auch ein Sinn für nicht-parochiale Formen christlicher Präsenz in der Gesellschaft (C.4);
  • und schließlich ein „Ausziehen“ der Communio-Perspektive, die das II. Vatikanische Konzil für die Kirche ad intra inauguriert hat, ad extra: hinein in einen „Dialog mit moderner Kultur“, mit dem Atheismus, ja überhaupt „mit jenen, die draußen stehen“ (B.5).

Kurz gesagt: Was für Klaus Hemmerle an und in der Stadt Rom so bedeutsam ist, dass er es seinen Mitarbeitern zeigen wollte und darüber mit ihnen im Gespräch bleiben will, das sind die „Zeichen der Zeit“, von denen die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils sagt, dass sie zu erforschen und im Licht des Evangeliums zu deuten, die Pflicht der Kirche sei – wenn sie denn ihren Auftrag erfüllen wolle (GS 4).

Insofern steckte aber hinter dem Unternehmen, das Führungspersonal seines Bistums nach Rom zu führen, eine doppelte Einschätzung Hemmerles:

  • In Italien und zumal in der Stadt Rom sind jene kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen wie im Brennglas zu sehen, die auch auf die deutsche Kirche zukommen werden, für die sie aber noch gar nicht gewappnet ist. – „Schaffen wir nicht“, fragt er, „Vorräte, während andere Quellen suchen?“ (B.4)
  • Nicht weniger aber ist, nachdem „noch zu Anfang und Mitte dieses [des 20.] Jahrhunderts Aufbrüche zu einer unmittelbaren und unkonventionellen Verlebendigung des Christlichen mehr in den Sprachräumen des Französischen und Deutschen zu suchen“ waren, heute (1986/1987) Italien der Ort zukunftsweisender theologischer, geistlicher und pastoraler Alternativen (B.3).

Hintergrund dieser Überzeugung war zweifelsohne die ganz persönliche Erfahrung Hemmerles, in Italien für sich die entscheidende Orientierung gefunden zu haben. Doch im Brief steht das nur zwischen den Zeilen.

Immer wieder läuft der Duktus des Briefes auf die Begegnung der Reisegruppe mit dem Theologen Piero Coda zu (A.5, B.5, C.5). Was aber Klaus Hemmerle weder im Brief zu erkennen gibt noch vor Ort hervorgekehrt hatte, ist, dass er seine Mitarbeiter damit zu einem Theologen geführt hatte, mit dem Hemmerle durch dasjenige verbunden war, was ihn fast dreißig Jahre zuvor erstmals nach Italien hat reisen lassen: das Fokolar – jene Bewegung bzw. Gemeinschaft, die 1943/1944 in Trient ihren Ausgang genommen hatte von einer kleinen Gruppe von Frauen um Chiara Lubich (*1920).9


  1. Vgl. Dein Reich komme. 89. Deutscher Katholikentag vom 10. bis 14. September 1986 in Aachen. Dokumentation, 2 Bde., Paderborn 1987. ↩︎

  2. Vgl. Bericht über Vorbereitung und Durchführung des 89. Deutschen Katholikentags Aachen, in: Dein Reich komme (Anm. 19), 19–36, hier: 19. ↩︎

  3. Durch seine Zeit als Geistlicher Direktor im Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (1968–1974) sowie durch seine Mitgliedschaft im Zentralkomitee als dessen Geistlicher Assistent (1974–1994) hatte Klaus Hemmerle eine besondere Verbindung zum deutschen Verbandskatholizismus und wesentlichen Anteil an der Vorbereitung und Durchführung der Katholikentage von 1968 bis 1992. Vgl. Klaus Hemmerle – Weggeschichte mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken = Berichte und Dokumente, 91, Bonn 1994. ↩︎

  4. Vgl. Bericht über Vorbereitung und Durchführung des 89. Deutschen Katholikentags Aachen (Anm. 20), insbes. 19 u. 26; sowie: „Dein Reich komme!“ Die Uhren umstellen auf Gottes Reich, in: Hirtenbriefe (Anm. 7), 54–56; „Auf werde licht, Jerusalem!“ – „Dein Reich komme!“ Heiligtumsfahrt und Katholikentag 1986, ebd., 57–59. ↩︎

  5. Vgl. Gemeinde im Jahr 2000 – Aufruf zur Weggemeinschaft, in: Hirtenbriefe (Anm. 7), 66–69; und dazu: HAGEMANN, Alle eins damit die Welt glaubt (Anm. 5), 155ff.; Charisma als Macht? (Anm. 12), dort insbes. die Beiträge von Peter Blättler. ↩︎

  6. Für die Zurverfügungstellung des Textes und für weitere Informationen danke ich Herrn Regionaldekan Alexander Schweikert, der 1986 in seiner damaligen Eigenschaft als Regionalpfarrer der Region Kempen-Viersen Teilnehmer der Romfahrt und Adressat des Briefes war. ↩︎

  7. Das Schreiben gehört zu einer für Klaus Hemmerle typischen Textgattung: Um einem bestimmten Adressatenkreis in einem bestimmten Anliegen zu antworten oder ihm dieses Anliegen allererst zu vermitteln und so mit den Adressaten in einen Austausch darüber zu gelangen, wählte er immer wieder diese Form eines halböffentlichen Briefes, eines „Hirtenbriefes“ im vielleicht eigentlichen Sinne. ↩︎

  8. Der Umstand, dass Papst Johannes Paul II. keine Erwähnung findet, liegt hingegen darin begründet, dass der Besuch einer Papstaudienz nicht Teil des Programms gewesen ist. ↩︎

  9. Vgl. Bader, Wolfgang: Art. „Fokolar-Bewegung“, in: LThK3 III (1995), 1341; Veronesi, Silvana (Hg.), Die Fokolar-Bewegung. Entstehung – geistliche Grundlinien – Initiativen, 2. Aufl., München 1993. ↩︎