Technik und Weisheit

Sechs Aufgaben der Weisheit*

Ich glaube, daß es sechs zentrale Aufgaben der Weisheit im Blick auf die Technik gibt:

Die erste, nächstliegende Aufgabe, ist die Frage nach den Zweitwirkungen. In der Ordnung dessen, was Technik ist, verpflichtet mich Weisheit, dem Ansatz zu mißtrauen, daß ich alle Voraussetzungen und Folgen meines technischen Produzierens und Planes im Griff habe. Ich muß immer neu die Frage stellen, ob nicht andere Wirkungen als die intendierten und berechenbaren möglich sind. Diese Frage ist entscheidend. Nicht als Lähmung, nicht als Verzweiflung an der Technik, sondern in jener Offenheit, die Phantasie und Bedachtsamkeit über das technische Planen hinaus braucht. Wer weise ist, rechnet mit Zweitwirkungen, schaut nach ihnen aus und bemüht sich, sie entsprechend zu werten. Das ist ein Spiel. Es geht nicht ohne dieses Spiel: aber der Weise, der in die Vielheit der Ordnungen blickt, kann eben die vielen Wirkungen eher abschätzen als jener, der nur in der Faszination von dem, was er kann, oder in der Furcht vor dem, was passieren könnte, steckenbleibt.

Das zweite liegt sehr nahe bei diesem ersten: Weisheit bedenkt, daß jener, der mit der Technik umgeht und von der Technik betroffen ist, der Mensch ist. Der Mensch kann sich nicht in der Reinheit des [105] technisch Möglichen in sich allein aufhalten, sondern er muß wissen, daß durch Technik etwas, ja Unabsehbares mit dem Menschen und der Welt geschehen kann. Damit ist Technik nicht böse. Aber ich muß wissen, welcher Gebrauch oder Mißbrauch ganz gewisser Möglichkeiten für den Menschen in diesen enthalten ist. Technik entwickelt nicht abstrakt sich selbst, ihre Entwicklung geschieht in Raum und Zeit. Wo, wann, in welchem Zusammenhang etwas entwickelt wird, ist nicht unabhängig vom Menschen. Weisheit verlangt danach, im Blick auf den Menschen, seine Notwendigkeiten und Gefährdungen, Programme auch für die Technik zu entwickeln. Die Technik hat ihr Programm nicht nur aus sich selbst, sondern von ihrem Auftraggeber. Sie darf letztlich nicht den „Auftraggeber Mensch“ auslassen. Er in seiner Menschlichkeit, in seiner Versuchlichkeit, in seiner Größe, in seiner Unantastbarkeit: er muß in das eigene Sich-Programmieren der Technik eingefügt werden.

Ein dritter, ganz entscheidender Punkt in der Begegnung zwischen Weisheit und Technik: Weisheit muß darauf achten, wie das von der Technik Ermöglichte durch die technischen Bedingungen seiner Ermöglichung in sich verändert wird. Denken wir an die Erfindung der Schrift, an den Unterschied zwischen einer bloß mündlich tradierten und einer schriftlich verfaßten Kultur. Die neue Möglichkeit, einen Gedanken aus einem konkreten Zusammenhang mündlicher Überlieferung herauszuheben und zu konservieren, hat auch das Überlieferte in sich verändert.

Heute scheint mir etwas Ähnliches, aber noch Abgründigeres zu geschehen in unserer technischen Kultur. Um frei zu sein für unsere Programme, entledigen wir uns zum Teil unseres Gedächtnisses und unserer logischen Operationen, indem wir sie verlagern von der Unmittelbarkeit unseres menschlichen Selbstseins in entsprechende Vorgänge von Computern, Rechenzentren u. ä. Dazu müssen wir die Inhalte formalisieren, sie einem System anpassen – und so verändern und begrenzen wir sie. Inhalte, die in Zahlen übersetzt sind, sind nicht mehr genau dieselben, wie wenn ich sie mit Worten ausdrücke. Was ich in ein technisches „Gedächtnis“ eingespeichert habe, löst sich vom lebendigen Kontext dessen, was in der Fülle meines Gedächtnisses lebt und weiterwächst. Dies zu bedenken ist von Interesse auch im Blick auf das Aufkeimen vieler Bewegungen einer neuen Religiosität, einer Esoterik, eines Versuchs der Bemächtigung untergründiger Zusammenhänge mit dem Jenseits. Ich werte dies nicht als einen echten Transzendenzbezug, wohl aber als einen Hunger danach.

Die überlieferte Sicht des Menschen begann mit dem Gedächtnis, führt von ihm zum Intellekt (Verstand) und mündet in der Liebe (im Willen). Nun aber hat der Mensch sein Gedächtnis als ein universales Kontaktnehmen mit der Wirklichkeit im Ganzen ausgelagert, und so drängt dieses Gedächtnis auf unkontrollierte und ungestüme Weise aus Tiefenschichten wieder ans Licht. Die Verlagerung von Gedächtnis und Intellekt auf technische Medien hat für das, was überliefert wird, fundamentale Bedeutung. Ich sage keineswegs, solches darf nicht geschehen. Wohl aber müssen wir bedenken, was damit geschieht, und dem Rechnung zu tragen versuchen.

Das vierte ist im dritten enthalten, muß aber eigens genannt werden: Nicht nur das Ermöglichte wird durch die Bedingungen seiner Ermöglichung verändert, sondern auch der es ermöglichende Mensch. Sage mir, womit du umgehst, und ich sage dir, was du bist: Dieses alte Sprichwort hat hier seine Anwendung. Sag mir deine Programme und deine Medien, und ich sage dir, wie dein Interesse, deine Reaktion, du selber verändert werden. Weisheit hat solches im Blick und hilft, menschliche Horizonte zu weiten.

Ein fünfter Punkt ergibt sich wiederum konsequent: Mit jeder Möglichkeit, die der Mensch entwickelt, werden andere Möglichkeiten verdrängt. Dies geschieht in jeder Entscheidung. Ein junger Mensch, der alles werden will, was er werden kann, wird nichts. Wer alle Möglichkeiten, die er hat, zugleich entwickeln will, der entwickelt keine. Doch es gilt sich zu entscheiden, welche Möglichkeiten ich entwickle und welche nicht. Ich muß die Möglichkeiten, die ich entwickele, sozusagen verschenken, damit sie als Verschenkte zum Resonanzboden der Entwickelten werden.

Die sechste und am tiefsten in die Ethik einschneidende Konsequenz des Zusammenhanges von Technik und Weisheit: Wir müssen um die innere Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht der Technik angesichts des Menschen wissen. Das Menschliche ist mehr als das bloße Technische. Eigen- [106] schaften und Beziehungen des Menschen reichen über das hinaus, als was sie sich in Technik abbilden oder technisch machen lassen. Doch machen technische Vorgänge es möglich, dem Menschen Eigenschaften zu nehmen oder anzuproduzieren, Beziehungen zu verfremden oder zu operationalisieren. Hier erreicht das Können der Technik als Bedingung der Möglichkeit etwas, das als das Ermöglichte dem Zugriff der Technik schlechterdings enthoben sein muß. Nutzung der Technik für die Lebens- und Seinsbedingungen des Menschen darf nie zum Verfügen über das seinem Wesen und Rang nach Unverfügbare menschlichen Selbstseins, unantastbarer Menschenwürde, unantastbaren Lebensrechtes werden. Hier tun sich entscheidende Zukunftsfragen auf.

Technik als solche steht unter der methodischen Prämisse neuzeitlicher Wissenschaft, die danach fragt, wie die Dinge sind, wenn es Gott nicht gäbe. Diese Prämisse überholt aber nicht die Bedeutung des biblischen Satzes: „Furcht Gottes ist Anfang der Weisheit“ (Spr 1,7). Denn nur die Ehrfurcht vor dem, was der Ordnung des Technischen entzogen und dem Menschen unverfügbar vorgegeben ist, macht Technik und ihre Anwendung verantwortbar. Der Christ bleibt freilich bei solcher Weisheit nicht stehen, sondern stellt sich unter die Botschaft der Torheit des Kreuzes (vgl. 1 Kor 1,22–25). Nicht Weisheit erlöst den Menschen und die Welt, sondern das Kreuz. Christen sind verpflichtet, diese letzte Nüchternheit auch angesichts der Weisheit ins Spiel der Welt zu bringen. Sie müssen Mahner dessen sein, daß die Weisheit nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Doch worin besteht die Torheit des Kreuzes? In jener Liebe Gottes, der im Kreuz Jesu den Menschen, so wie er ist, den Menschen auch als Sünder übernimmt, ausleidet und so erlöst. Brauchen wir nicht zuletzt und zutiefst solche Liebe, solches ganze Ja, solche unabdingbare Solidarität mit allem Menschlichen, damit eine Kultur der Technik menschliche und menschheitliche Kultur sei und werde?